Als 22-Jähriger sind Sie mit drei Taschen und sechs Büchern mit dem Bus ins Ungewisse gefahren. Genauer nach Deutschland, wie eine Viertelmillion andere Juden aus der Ex-UdSSR auch. Ist Ihr Buch sowohl eine sehr persönliche wie auch eine generische Geschichte?
Dmitrij Belkin: Eine persönliche Geschichte, die danach schreit: Nur meine Gefühle, meine Dummheiten, meine Siege, Kontinuitäten und Brüche, mein Judentum und bitte keine Generalisierungen! Aber auch eine Geschichte, die hofft, der Generation der jüdischen Einwanderer in Deutschland eine Stimme zu geben. Die Migration mit ihren unlustigen Begleiterscheinungen führt(e) verdammt oft zur Verstummung. Fragen Sie »die Türken« von damals und »die Syrer« von heute! So sagt man irgendwann zu sich selbst: »Klappe zu jetzt, ihr Komplexe und Kränkungen, mir ist gerade nach Reden!« Dann schreibt man ein solches Buch.
Sie leben mittlerweile seit 23 Jahren in Deutschland. Ist etwas von Ihrem Bild von Germanija erhalten geblieben?
D.B.: Germanija entwickelte sich für mich allmählich zu Deutschland. Ein Land der Dichter und Denker mit Hitler, Sozial- und Arbeitsämtern (Imaginationen und Realitäten der 1990er Jahre) gibt es nicht mehr. Es gibt vielmehr ein Land, das sich gerade neu entdeckt. Und ich trage dazu bei. Nicht als ein ängstlich beobachtender Gast – als Akteur!
Der Untertitel Ihres Buches lautet: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde. Was hat diese Entwicklung vor allem angestoßen?
D.B.: Die brutale Einsamkeit des Migrantendaseins und die Frage an sich selbst sowie an die eigene Familie: Was bin ich denn? Was sind wir? Die kürzeste Antwort lautete: Die Juden! Aber auch die Schönheit und die Anziehungskraft der jüdischen Tradition, die ich in einem Land kennen lernen durfte, in dem es nach dem Holocaust keine Juden mehr hätte geben können. In Germanija.
Eine Ihrer Kapitelüberschriften lautet: »Wie hart ist es, als Jude in Deutschland zu leben?« Wie hart ist es tatsächlich?
D.B.: Hart ist es, sich als »Geschenk« fühlen zu müssen. »Juden sind ein Geschenk für Deutschland« – wie oft haben wir das denn gehört? Hart ist es, diese verführerische Geschenk-Verpackung zu verlassen und sein eigenes Leben zu leben. Diese Entwicklung nenne ich »Erwachsensein«. Hart ist es, mit dem Antisemitismus konfrontiert zu werden und nicht gleich zu verkünden: »Diese Deutschen, sage ich doch!« Ein differenzierter Blick ist aber auch fair dem Land gegenüber, das uns vor mehr als 20 Jahren aufgenommen hat und dessen Widersprüche inzwischen auch meine sind.
Über den Autor
Dmitrij Belkin geboren 1971 in der Ukraine (damals UdSSR), kam 1993 als »Kontingentflüchtling« nach Deutschland. In Tübingen schloss er sein bereits in der Ukraine begonnenes Studium der Geschichte und Philosophie mit Promotion ab. Nach Stationen am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte, beim Jüdischen Museum Frankfurt, beim Fritz Bauer Institut und einem Jahr in den USA ist er heute als Referent beim jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich-Studienwerk und als Publizist in Berlin tätig, wo er mit seiner Familie lebt.
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