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Wirtschaft und Gesellschaft

Der neue Michael Lewis ist da! Ein Auszug.

AUS DER WELT Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat.

Einleitung
EINE NAGENDE FRAGE

In meinem Buch Moneyball, das im Jahr 2003 erschien, schilderte ich die Baseballmannschaft der Oakland Athletics und ihre Suche nach neuen Methoden zur Bewertung von Spielern und Strategien. Da die Oakland Athletics weniger Geld für Spielereinkäufe zur Verfügung hatten als andere Clubs, entwickelten die Manager einen ganz anderen Ansatz. In alten und neuen Baseballstatistiken spürten sie frische Erkenntnisse auf, mit deren Hilfe es ihnen gelang, besser zu werden als viele der anderen Teams. Sie fanden einen Platz für Spieler, die von anderen Mannschaften ausgemustert oder übergangen worden waren, und stellten fest, dass sich viele der geschätzten Baseballweisheiten als reiner Unsinn entpuppten. Als das Buch erschien, wurde es von einigen Experten – erfahrenen Managern, Talentsuchern und Journalisten – verrissen, aber viele Leser waren von der Geschichte genauso fasziniert wie ich. Viele erkannten im Ansatz der Oakland Athletics eine Lektion, die weit über den Sport hinausging: Wenn die in aller Öffentlichkeit agierenden Vertreter einer traditionsreichen Branche derart falsch eingeschätzt wurden, wer wurde dann nicht falsch eingeschätzt? Wenn der Markt für Baseballspieler ineffizient war, welcher Markt war es dann nicht? Wenn ein neuer analytischer Ansatz im Baseball neue Erkenntnisse hervorbrachte, ließen sich dann nicht auch in anderen Branchen ähnliche Ergebnisse erzielen?

In den vergangenen gut zehn Jahren haben sich viele Menschen die Oakland Athletics zum Vorbild genommen und nach Möglichkeiten gesucht, sich mithilfe besserer Statistiken die Schwächen des Marktes zunutze zu machen. In der Folge wurden Artikel über Moneyball für Schulen, Filmstudios, Krankenversicherungen, Golf, Landwirtschaft, Buchverlage, Präsidentschaftswahlen, Banker und so weiter veröffentlicht. »Plötzlich werden Außenstürmer nach Moneyball-Kriterien beurteilt«, klagte ein Footballtrainer der New York Jets. Und als der Satiriker John Oliver sah, mit welch diabolischen und datengestützten Methoden das Parlament von North Carolina afroamerikanische Wähler von den Urnen ferngehalten wollte, sprach er von »Moneyball-Rassismus«. Doch die Statistikbegeisterung hielt nicht lange vor. Wenn der statistische Entscheidungsansatz nicht sofort zum Erfolg führte, wurde er auf eine Weise niedergemacht, wie klassische Experten niemals kritisiert wurden. Nachdem die Boston Red Sox die Einkaufsstrategie der Oakland Athletics kopiert hatten, gewannen sie 2004 zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert die Meisterschaft. In den Jahren 2007 und 2013 wiederholten sie den Erfolg mit derselben Methode. Aber nach drei enttäuschenden Jahren nahmen sie 2016 wieder Abstand von dem datengestützten Ansatz und erklärten, dass sie sich fortan wieder auf Baseballexperten verlassen wollten. Ein anderes Beispiel ist der Meinungsforscher Nate Silver, der in der New York Times jahrelang mit erstaunlicher Präzision Wahlergebnisse vorausgesagt und dazu einen Ansatz verwendet hatte, den er als Baseball-Journalist entwickelt hatte. Erstmals schien die New York Times einen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz zu haben. Aber als Silver die New York Times verließ und den Aufstieg Donald Trumps nicht vorhersagte, wurde sein Ansatz kritisiert – ausgerechnet von der New York Times! »Es geht nichts über den klassischen Journalismus, denn Politik ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit und widersetzt sich der Prognose und der Vernunft«, schrieb ein Kolumnist im Frühjahr 2016. (Dabei übersah er geflissentlich, dass so gut wie kein klassischer Journalist den Aufstieg Trumps vorhergesehen hatte und dass Silver später einräumte, er habe sich bei seinen Vorhersagen ungewöhnlich stark von seiner subjektiven Meinung leiten lassen, weil Trump ein derartiger Ausreißer war.)

Die Kritik an Leuten, die von sich behaupten, mithilfe von Statistiken neue Erkenntnisse zu gewinnen und die Schwächen ihrer Branchen auszunutzen, mag hin und wieder berechtigt sein. Aber die Sehnsucht nach Experten, die Sicherheit bieten, wo es gar keine gibt, scheint tief in der menschlichen Psyche verwurzelt zu sein. Sie ist wie ein Filmmonster, das wir eigentlich schon tot geglaubt haben, das sich aber immer irgendwie noch einmal hochrappelt. Nachdem sich der Staub um Moneyball gelegt hatte, blieb mir daher vor allem eine Reaktion auf mein Buch im Gedächtnis haften: die Besprechung des Wirtschaftswissenschaftlers Richard Thaler und des Juristen Cass Sunstein, die damals an der University of Chicago lehrten. Der Rezension, die am 31. August 2003 in der Zeitschrift New Republic erschien, gelang das Kunststück, großzügig und vernichtend zugleich zu sein. Die beiden Wissenschaftler waren genauso fasziniert wie ich, wie ein Markt für Profisportler derart verkorkst sein konnte, dass ein armer Club wie die Oakland Athletics plötzlich einen Gutteil der wohlhabenden Vereine besiegen konnte, indem er sich die Schwächen dieses Marktes zunutze machte. Doch der Autor von Moneyball scheine den Grund dafür nicht zu kennen, so die beiden Rezensenten: Der sei tief in den Mechanismen des menschlichen Denkens verwurzelt. Die Gründe für die Fehleinschätzungen von Baseballexperten und die Denkfehler aller Experten seien schon vor Jahren von zwei israelischen Psychologen namens Daniel Kahneman und Amos Tversky beschrieben worden. Mein Buch sei nichts Neues. Es handele sich lediglich um ein Beispiel für eine jahrzehntealte Erkenntnis, die von der Öffentlichkeit – meine Wenigkeit eingeschlossen – offenbar noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden sei. Das war eine freundliche Untertreibung.

Die Namen Kahneman und Tversky hörte ich zum ersten Mal, und das, obwohl ersterer im Jahr zuvor den Wirtschaftsnobelpreis bekommen hatte. Und über die psychologischen Aspekte der Moneyball-Geschichte hatte ich mir kaum Gedanken gemacht. Warum der Markt für Baseballspieler ineffizient war? Das Management der Oakland Athletics hatte von »Verzerrungen « gesprochen: Zum Beispiel wurde die Geschwindigkeit der Spieler überschätzt, weil sie einfach zu messen war; dagegen wurde die Fähigkeit eines Spielers, auch ohne Schlag zu punkten, oft unterschätzt, weil er ja im Grunde gar nichts tat. Kleine, rundliche Spieler wurden unterbewertet, während attraktive, fit wirkende Spieler tendenziell überbewertet wurden. Ich fand diese Verzerrungen interessant, von denen die Manager sprachen, aber ich hatte nie nachgehakt und mich gefragt, wo sie wohl herkommen oder warum die Scouts und Spielerkäufer sich von ihnen beeinflussen lassen. In meinem Buch ging es darum, wie Märkte Spieler bewerten, und warum sie sich so oft irren. Irgendwo verschüttet war da noch eine andere Geschichte, die ich nicht erzählte, und in der ging es darum, wie wir zu unseren Urteilen und Entscheidungen kommen und warum wir so oft danebenliegen.

Wie gelangen wir zu unseren Entscheidungen, wenn wir mit Unwägbarkeiten konfrontiert sind? Wie gehen wir mit Informationen aus Sportereignissen, Quartalsberichten, Gerichtsverfahren, medizinischen Untersuchungen oder zwischenmenschlichen Begegnungen um? Was geschieht in unserem Gehirn (und selbst im Gehirn von vermuteten Experten), dass es Fehlurteile fabriziert, die anderen Vorteile verschaffen, wenn sie statt Experten Statistiken heranziehen? Und wie kam es, dass zwei israelische Psychologen so viel über dieses Thema zu sagen hatten, dass sie im Grunde ein Buch über Baseball vorweggenommen hatten, das erst Jahrzehnte später geschrieben werden sollte? Was brachte zwei Wissenschaftler aus dem Nahen Osten dazu, sich Gedanken darüber zu machen, was in einem Gehirn vorgeht, wenn es Baseballspieler, Anlagemöglichkeiten oder Präsidentschaftskandidaten beurteilen soll? Und wieso konnte ein Psychologe einen Wirtschaftsnobelpreis gewinnen? In der Antwort auf diese Fragen steckte eine ganz neue Geschichte.

 

Zum Autor

Michael Lewis, Jahrgang 1960, ist Wirtschaftsjournalist und erfolgreicher Autor zahlreicher Sachbücher. Er hat Abschlüsse von der Princeton University und der London School of Economics. Seine Erfahrungen als Investmentbanker verarbeitete er 1989 in seinem ersten Buch »Liar’s Poker«, das sofort auf Platz 1 der Sachbuchbestsellerliste schoss. Zahlreiche weitere Bestseller folgten. Auch sein letztes Buch, »The Big Short«, stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times. Es erschien 2010 auf Deutsch im Campus Verlag.

11.01.2017

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