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Wirtschaft und Gesellschaft

»Der Umstieg auf das E-Auto bedeutet die Änderung der gesamten Unternehmenskultur.« Peter Mertens

Peter Mertens hat mit »Aufstieg aus der Blechliga« ein Buch über die Zukunft der Autoindustrie geschrieben. Im Gespräch mit campus.de erklärt er, warum die Autobauer radikal umstrukturieren müssen - mental wie real.

Die deutsche Autoindustrie hat lange geschlafen, was die Disruption ihrer Branche betrifft. Sie hat sich auf das Fahrzeug fokussiert, als andere längst den mobilen User als Kern des Geschäftsfeldes erkannt hatten. Was waren die Gründe?

Peter Mertens: Es stimmt, wir haben geschlafen und auch ich als Ex-Vorstand von Volvo und Audi habe einen Teil der Schuld zu tragen. Die klassischen Autohersteller starten nun mal nicht auf dem grünen Tisch wie Tesla, und sie hatten und haben den Übergang vom Verbrenner zum batterie-elektrischen Auto zu bewerkstelligen. Der Umstieg aufs Elektroauto bedeutet hinter den Kulissen die Änderung der gesamten Unternehmenskultur. Moderne Autos werden von der Software und der Mikroelektronik aus gedacht. Das mussten wir erst einmal begreifen und umsetzen.  Man kann CAD-Konstrukteure nicht über Nacht zu Software-Entwicklern machen, dafür bedarf es Zeit!

Sie sagen, die deutschen Autobauer sind zurück. Wunderbar. Was war der Punkt, an dem die Branche aufgewacht ist?

Mertens: Zugpferd und Treiber des Wandels ist vor allem Volkswagen. Herbert Diess hat endgültig und eindeutig auf der Hauptversammlung des Konzerns im Frühjahr 2019 Stellung für das E-Auto bezogen. Aber auch der Erfolg von Tesla hat den Druck auf die traditionellen Hersteller für die notwendige Transformation deutlich erhöht. Französische Hersteller haben schon früh mit der Fertigung von E-Autos begonnen, siehe Renault mit dem ZOE. BMW war mit seiner i-Serie der deutsche First-Mover, hat dann aber plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen. An den Produktionsplänen haben alle schon lange gefeilt. Jetzt geben die Europäer Strom. Im Nachhinein wird man sehen, ob die zögerliche Haltung der OEMs nicht sogar clever war.

Sie wünschen sich für die Zukunft der europäischen Autoindustrie eine gemeinsame Open-Source-Strategie. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

Mertens: Die aktuelle Situation sollte klarmachen, dass die Autoindustrie zu einer neuen Software-Industrie mit einem Blechanhängsel werden muss. Die Konsequenz daraus ist, dass sie die Formen der Zusammenarbeit und die Entwicklungsstrategien der Software-Industrie übernehmen muss.  Das ist auch der einzig richtige Weg, sich nicht von Tech-Firmen und Plattformgiganten wie Google oder Apple die Verbindung zum Kunden abschneiden zu lassen. 

In der Software-Industrie ist »Open Source« das zentrale Prinzip. Open-Source-Software ist, wie der Name sagt, »quelloffen«, das heißt der Code steht im Prinzip der gesamten Entwicklergemeinde weltweit zur freien Verfügung – wird aber auch von hunderttausenden Entwicklern rund um die Welt gemeinsam weiterentwickelt. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine Strategie der Software-Entwicklung – es ist eine Grassroots-Philosophie einer ganzen Generation von Software-Entwicklern. Sie steht für bestimmte Formen der Zusammenarbeit und wie Projekte vorangetrieben werden. Ein Autobetriebssystem »allein« neu zu entwickeln halte ich für unproduktiv und kaum in der Kürze der Zeit machbar, ganz sicher nicht für wirtschaftlich.

Im Moment sind sich die Player – Industrie, Wissenschaft, Kunden – noch nicht einig, wo es in Zukunft mit der Mobilität hingehen könnte. Glauben Sie an eine schnelle Einigung?

Mertens: Ich glaube, dass sich Trends in Industrie, Wissenschaft und bei den Kunden verfestigen und sich Elemente aus jedem Bereich holen. Die Kunden wollen nach wie vor SUVs, aber sparsam und elektrisch! Die Entwicklung wird eher organisch ablaufen – es sei denn in bestimmten Bereichen greift der Staat stark ein. Im positiven Sinne sehen wir das an der E-Auto Prämie. Wenn man den Herstellern vorwerfen kann, dass sie Trends verpasst haben, gilt dasselbe für die Politik. Hier hätte ich mir eine deutlich frühere Unterstützung mit Anreizsystemen und dem Ausbau der Infrastruktur gewünscht.

Sie sprechen vom Auto als Device und einem mobilen Möglichkeitsraum zum Arbeiten und Erholen – ist diese Idee beim europäischen Kunden überhaupt schon angekommen?

Mertens: Ich denk,e bei Teilen der Kundschaft ist das sehr wohl schon angekommen. Das gilt natürlich eher für Premium-Produkte für Vielfahrer. Eine sehr hohe Penetration mit Technologien, die dann Arbeit und Erholung während der Fahrt ermöglichen, wird es aber in den nächsten drei bis fünf Jahren nicht geben. Allerdings müssen die Fahrzeuggenerationen darauf vorbereitet werden, mit der richtigen elektrischen Architektur und »Software defined«. Der Mythos Auto wird auch von elektrischen Modellen weitergetragen, das sieht man am Beispiel Porsche Taycan, Audi Etron GT.

Fahren Sie in zehn Jahren noch Auto?

Mertens: Natürlich werde ich in zehn Jahren noch ein Auto fahren: einen Wasserstoff getriebenen SUV mit voll autonomem Fahren auf Level 5, aber mit Lenkrad, Gaspedal und Bremse, sodass ich selber entscheiden kann, wann ich fahren will oder autonom gefahren werden.

 

Peter Mertens, zuletzt Technik-Vorstand bei Audi, investiert heute in Start-ups und die Zukunft des Autos. Er beteiligt sich an Firmen wie Recogni (autonomes Fahren), VHOLA (Elektrosmog-Kontrolle) oder Circunomics (Recycling von Autobatterien). Der promovierte Ingenieur blickt auf eine internationale Karriere in leitenden Positionen bei Daimler, Opel, GM sowie Volvo zurück, und kennt die Automobilbranche wie kein Zweiter.

 

Sie möchten diesen Artikel zweitverwerten? Bitte wenden Sie sich per Mail an: schellhase@campus.de (Nina Schellhase)

19.08.2021

Wirtschaft & Gesellschaft

Aufstieg aus der Blechliga
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