Malcolm Gladwell will wissen, was in anderen Menschen vorgeht. Um das zu ergründen, scheut er keine Mühen. Um den Unglücksflug von John F. Kennedy jr. nachzuvollziehen, steigt er bei ungünstigsten Wetterverhältnissen in Flugzeuge und lässt sich freiwillig in Sturzflug versetzen. »Das war eine Notwendigkeit. Ich wollte verstehen, wie sich ein Sturzflug anfühlt, denn um das Unglück wirklich zu verstehen, reicht es nicht aus, nur zu wissen, was Kennedy tat.« Man muss es soweit wie möglich nacherleben.
Doch Gladwell interessiert sich nicht etwa nur für Eliten oder Überflieger. Seine Suche nach der guten Geschichte beginnt meist in der Mitte der Gesellschaft. Im wirklichen Leben, dort, wo die eigentliche Arbeit gemacht wird und die Helden des Alltags zu Hause sind. Er ist überzeugt, dass hinter allem eine Geschichte steckt – sei es hinter Haarfärbemitteln, den langen amerikanischen Sommerferien oder der Sauce aller Saucen, dem Ketchup. Das Besondere an Gladwell: Er spürt die Geschichte hinter dem Alltäglichen nicht nur auf, er kann sie auch erzählen.
»Ob eine Geschichte gut ist oder nicht, hängt nicht unbedingt davon ab, ob sie überzeugt. Es hängt vielmehr davon ab, ob sie in der Lage ist, den Leser zu fesseln, zum Nachdenken anzuregen und einen Blick in den Kopf eines anderen Menschen zu gewähren – selbst wenn man am Ende zu dem Schluss kommen, dass man die Welt lieber nicht durch diese Augen sehen will. Ich nenne diese Geschichten Abenteuer«, sagt Gladwell. Nichts ist für den Autor schrecklicher, als seine Leser zu langweilen. Auch seine Biografie ist alles andere als langweilig. Am 3. September 1963 wird er in Hampshire, England geboren. Er ist der Sohn einer aus Jamaica stammenden Psychotherapeutin und eines englischen Mathematik-Professors. Als Gladwell sechs Jahre ist, siedelt die Familie nach Ontario, Kanada über. Mit elf Jahren verschafft ihm sein Vater Zugang zu einem Ort, der ihn maßgeblich prägen wird: die Bibliothek der Universität. Die Welt der Bücher. Die große Recherche beginnt.
Nach dem Besuch der Journalistenschule des National Journalism Center in Washington D.C. und einem Studium der Geschichte am Trinity College der Universität Toronto will er eigentlich in die Werbung, aber die Werbung will ihn nicht. Was also tun? Gladwell beginnt zu schreiben. »Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass Schreiben ein Beruf sein konnte. Ein Beruf, das war doch eine ernste und anstrengende Angelegenheit. Und Schreiben machte mir Spaß«, erinnert er sich. Zunächst schreibt Gladwell für eine kleine Zeitschrift in Indiana, anschließend arbeitet er als Reporter bei der »Washington Post« und schließlich beginnt er beim »New Yorker«, für den er noch heute arbeitet. Seine Essays zu den unterschiedlichsten Themen sind weltberühmt und nicht selten Ausgangspunkt für seine Bücher – allesamt Bestseller.
Um seine Person mag Gladwell hingegen keinen Wirbel. Den machen andere, die nach Veröffentlichung seiner Bücher im Internet eine regelrechte Gladwell-Mania anzetteln. Auf Pressereisen meidet er den Smalltalk und begibt sich lieber außerhalb des Rummels – in den nächtlichen Kölner Straßen etwa – auf Entdeckungsreise. Wenn möglich, reist er lieber mit der Bahn als mit dem Flieger. Er nennt es »humaner reisen«. Die Person Gladwell ist leise, laut präsentiert er nur seinen Inhalt. Wenn Gladwell auf der Bühne steht, ist er voll da. Genauso wie seine Geschichten. In ihnen bekommt man immer 100 Prozent Gladwell.
Seine große Kunst: Er webt einen vermeintlich leichten Stoff, aber dahinter verbergen sich Welten an Wissenschaften. Er nimmt uns mit auf eine interdisziplinäre Reise durch komplexe Themen. Wer Gladwell liest, kommt ins Staunen, amüsiert sich prächtig und hat, ohne es zu bemerken, viel gelernt. Im Grunde gleichen die Texte von Gladwell einem Eisberg: Nur der kleinste Teil des Wissens, das in ihnen steckt, ist sichtbar.
Sein neuester Geniestreich heißt »David und Goliath«. Wie kann es sein, dass der kleine, nur mit einer Steinschleuder ausgerüstete David den schwer gerüstet und bewaffneten Goliath schlägt? Kurz: Wie stark ist schwach, hat sich Gladwell gefragt. Um das zu beantworten, zückt er selbst seine schärfste Waffe: die Sprache. Und er erzählt Geschichten von gewöhnlichen Menschen, die sich Riesen entgegenstellen – übermächtigen Gegnern jeder Art, von furchteinflößenden Kriegern über Behinderungen, Schicksalsschläge oder Unterdrückung. Gladwell zeigt: Das Gefühl, der Unterlegene zu sein, öffnet Türen, schafft Freiräume und macht Dinge möglich, die unter »besseren« Voraussetzungen, vielleicht unmöglich gewesen wären.
Am Ende von »David und Goliath« ist der Riese entzaubert. Der Zauberer Gladwell hingegen hat eine neuerliche Probe seines magischen Könnens geliefert.
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