Sozialstaat ist je nach Perspektive ein dehnbarer Begriff. Was gehört für Sie auf jeden Fall dazu?
Ronnie Schöb: Die Aufgabe des Sozialstaates ist die Existenzsicherung seiner Bürger. Sie gelingt am besten, wenn sich jeder Einzelne durch seine Arbeit selbst um sich kümmern kann. Dafür braucht es ein funktionierendes Bildungssystem und eine funktionierende marktwirtschaftliche Ordnung. Beides sind tragende Säulen des Sozialstaates. Sie können aber nicht allen helfen. Deshalb verspricht ein starker Sozialstaat darüber hinaus seinen Bürgern: »Wenn es euch nicht gelingt, für euch selbst zu sorgen, etwa weil ihr krank, alt oder arbeitslos seid, dann lässt der Staat euch nicht alleine, sondern unterstützt euch umfassend.«
Sie präsentieren in Ihrem Buch »Der starke Sozialstaat« einen Entwurf für dessen Modernisierung. Was sind Ihre Kernpunkte?
Ronnie Schöb: Es geht vor allem um zwei Dinge: Erstens muss Sozialstaat stärker als bislang die Eigeninitiative fördern, damit sich die Bürger vorrangig durch eigene Arbeit und durch ihre Beiträge zu den Sozialversicherungen selbst helfen können. Für alle, denen das nicht gelingt, muss der Staat aber zugleich ein starkes unterstes soziales Auffangnetz einziehen. Das ist mein zweiter Punkt. Dafür braucht es eine schlankere und dadurch wirkungsvollere neue Grundsicherungsarchitektur. Sie setzt einerseits auf stärkere Anreize zu arbeiten und mehr fürs Alter vorzusorgen, damit Menschen für sich selbst sorgen können. Wem das nicht gelingt, der erhält anderseits umfassende staatliche Unterstützung. Besonderen Schutz genießen dabei die Kinder, die ja nicht für sich selbst sorgen können. Für sie gibt es eine umfassende, eigenständige Kindergrundsicherung, die unabhängig vom Status der Eltern ausbezahlt wird. Sie sorgt dafür, dass sich Arbeit auch für Eltern wieder lohnt und verhindert so deutlich besser als bisher, dass man mit Kindern ins gesellschaftliche Abseits gerät.
»Weniger ist mehr« lautet der Untertitel ihres Buches. Heißt das weniger für alle?
Ronnie Schöb: Nein, im Gegenteil! Die staatliche Fürsorge wird nicht angetastet, aber zu arbeiten wird deutlich attraktiver. Um das zu erreichen, müssen wir aber das bestehende Förderdurcheinander entwirren. Derzeit bestraft es jegliche Eigeninitiative für Geringverdiener, vor allem, wenn sie Kinder haben. Das muss dringend geändert werden, denn das gegenwärtige System ist nicht nur unökonomisch, es ist auch unfair. »Weniger ist mehr« bedeutet: Weniger Bürokratie, mehr Eigenverantwortung und gezieltere Hilfe für jene, die wirklich darauf angewiesen sind –das sichert den Bürgern für die Zukunft einen starken Sozialstaat.
Sie wünschen sich mehr Eigeninitiative der Bürger – wie lässt sich das erreichen?
Ronnie Schöb: Bei der Förderung von Eigeninitiative steht der Sozialstaat vor einem Dilemma: Zuviel Fürsorge untergräbt die Bereitschaft zur Selbsthilfe und verstärkt die Probleme, die er eigentlich lösen will. Zuwenig Fürsorge fördert zwar Eigeninitiative, nimmt aber billigend in Kauf, dass diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, im Stich gelassen werden. Wenn wir nicht an der Fürsorge sparen wollen, müssen wir auf stärkere Anreize zu arbeiten setzen – und das notfalls auch mit mehr Nachdruck.
Sicherheit für alle ist ein Prinzip des Sozialstaats. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen ist es wichtig. Haben die Bürger berechtigtes Vertrauen in dieses Prinzip?
Ronnie Schöb: Das Vertrauen in die Stärke des Sozialstaates erwächst aus dem doppelten Versprechen aller Bürger, sich selbst zu helfen und allen, die das Glück verlassen hat und in existenzielle Not geraten sind. In der Corona-Krise konnten wir sehen, wie stark dank dieses doppelten Versprechens der gesellschaftliche Zusammenhalt ist. Doch unser sozialstaatliches System läuft zunehmend Gefahr, diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel zu setzen. Wir müssen den Sozialstaat daher nach der Krise zügig neu aufstellen. Dabei müssen wir uns von der Idee eines Vollversicherungsstaates verabschieden, der sich um alle Lebensbereiche umfassend kümmert. Das führte in den letzten Jahren zu einem ausufernden Klein-Klein der Sozialpolitik, die zunehmend darauf gesetzt hat, Sonderwünsche zu bedienen und so unfaire Vorteile für gesellschaftlich gut organisierte Gruppen zu schaffen. Das ist nicht die Aufgabe eines funktionierenden und gerechten Sozialstaats. So verspielen wir zudem das Vertrauen der Bürger in diesen Sozialstaat. Er muss so aufgestellt sein, dass er dort helfen kann, wo Hilfe am notwendigsten ist und auch wirklich gebraucht wird. Wie das geschehen muss, beschreibe ich in meinem Buch.
Ronnie Schöb ist Professor an der Freien Universität Berlin
Sie möchten dieses Interview zweitverwerten? Wenden Sie sich bitte an unsere Online-Redakteurin Nina Schellhase (schellhase@campus.de)