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Wissenschaft

»Alexis Tsipras und seine Politik zu verstehen, ist nach wie vor eine Herausforderung, aber leichter geworden.«

Wolfgang Schultheiß und Ulf-Dieter Klemm, Autoren von »Die Krise in Griechenland« haben für campus.de einen weiteren exklusiven Meinungsbeitrag geschrieben.

Ulf-Dieter Klemm

Wolfgang Schultheiß

Die vorgezogene Wahl am 23. September, gerade einmal acht Monate nach Tsipras’ Wahlsieg vom 25. Januar 2015, hat folgende Ergebnisse erbracht

-  SYRIZA mit Alexis Tsipras an der Spitze bleibt trotz des Schlingerkurses in den ersten sechs Monaten ihrer Regierung mit 35,46 Prozent der Stimmen (und einem unerwartet hohen Abstand von 7 Prozent gegenüber der zweitplazierten Nea Demokratia) stärkste Partei.

- Tsipras gelang der Befreiungsschlag gegenüber den parteiinternen Ideologen der Linken Plattform, die das Land »zurück zur Drachme« führen wollten. Deren Parteiabspaltung namens Volkseinheit (Laikí Enótita) scheiterte an der Dreiprozentklausel.

- Der extravagante ehemalige Finanzminister Yanis Varoufakis, der monatelang die Talkshows, nicht jedoch die praktische Politik bewegte, spielt keine politische Rolle mehr.

- 85 Prozent der im neuen Parlament vertretenen Parteien stehen für den Verbleib in der Eurozone und für die – unbeliebte – Zusammenarbeit mit den Vertretern der Gläubiger. Einen davon abweichenden Kurs steuern nur die verknöcherte griechische Kommunistische Partei und die Neonazis von der Goldenen Morgenröte.

- 43,5 Prozent der Wähler gingen nicht zur Wahlurne – das ist die größte Wahlenthaltung seit dem Fall der Militärdiktatur im Jahre 1974. Damit haben nur 20 Prozent der griechischen Wahlberechtigten für Tsipras gestimmt. Dennoch – und trotz einer knappen Mehrheit seiner Koalition von nur 155 der 300 Sitze im Parlament hat – darf man eine relativ stabile Regierung erwarten: Die innerparteilichen Gegner sind aus dem Parlament gedrängt, in Fragen der Erfüllung des Memorandums kann Tsipras auf die Unterstützung durch Stimmen von Teilen der Opposition hoffen.

Damit ist das Kalkül von Alexis Tsipras ist aufgegangen. Er hat die Macht behalten, innerparteilichen Ballast abgeworfen und mit ANEL weiterhin einen pflegeleichten Koalitionspartner, der zwar im politischen Spektrum an den Antipoden angesiedelt ist, jedoch durch das Wahlergebnis geschwächt ist und dessen Chef  damit zufrieden sein dürfte, den Posten des Verteidigungsministers beizubehalten. ANEL dürfte Tsipras unter den möglichen Koalitionspartnern am wenigsten Kompromisse abfordern. Die Kritik europäischer Parteien an dieser widersprüchlichen Koalition wird ihn kalt lassen, zumal etwa die sich seiner Partei verbunden fühlende »Die Linke« ihre Kritik nur leise äußert. Er kann seinen ideologischen Anspruch einer in Europa ganz neuen linken Regierung zumindest verbal weiter verfolgen. Welche Auswirkungen seine Wiederwahl bei den anstehenden Wahlen in Spanien und Portugal haben wird, bleibt abzuwarten.

Die populistischen Wahlversprechen vom Herbst letzten Jahres konnte die SYRIZA-ANEL-Regierung nicht erfüllen. Nun wird Tsipras das von ihm am 14. August ausgehandelte Memorandum selbst umsetzen müssen. Seine politischen Gegner werden das genüsslich verfolgen und politischen Gewinn daraus zu schlagen versuchen. Nach einem schmerzlichen Lernprozess muss seine Regierung endlich daran gehen, grundlegende Strukturprobleme zu lösen, die in unserem Buch »Die Krise in Griechenland« beschrieben werden. Er kann aus Fehlern der Vergangenheit lernen, wie das wohl auch die Geldgeber getan haben. Er kann  versuchen, im Sinne seiner Wahlversprechen die sozialen Folgen des Sparkurses zu mildern und – vielleicht – mit weniger Rücksicht auf Klientelbeziehungen Reformen angehen, an denen die Vorgängerregierung gescheitert ist. Man kann ihm da nur viel Glück wünschen und hoffen, dass er Erfolg hat! Denn seinen Wahlsieg hat er letztlich der Tatsache zu verdanken, dass man ihm – eher als der Nea Demokratia – zutraut, mit dieser Herkulesaufgabe fertig zu werden. Man mag das bisherige Verhalten von Tsipras nicht gut heißen, ja für unverantwortlich und populistisch halten. Jetzt aber ruht die Hoffnung des Landes und der europäischen Partner auf ihm.

 

Zu den Autoren

Ulf-Dieter Klemm lebte vor seinem Jurastudium sechs Jahre in Athen. 1977 trat er in den deutschen Auswärtigen Dienst ein, der ihn unter anderem als Kulturreferent an die Botschaft Athen führte. Bis 2011 war er Botschafter in Marokko und ist heute als Autor und Übersetzer griechischer Bücher und Texte tätig.

 

Wolfgang Schultheiß blickt auf ein 36-jähriges Berufsleben als Diplomat zurück. Von 2001 bis 2005 war er außenpolitischer Berater der Bundespräsidenten Rau und Köhler, anschließend bis zu seiner Pensionierung 2010 Botschafter in Athen. Er ist Mitherausgeber eines Buchs über die deutsch-griechischen Beziehungen und Gründer der Beratungsplattform »DiploConsult«.

 

 

29.07.2015

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Die Krise in Griechenland
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