»Auschwitz« steht heute im kollektiven Gedächtnis emblematisch für das deutsche Menschheitsverbrechen, für die Ermordung der europäischen Juden. Reden wir von Auschwitz, meinen wir die Shoah, den Holocaust. Wie ist die deutsche Justiz mit den NS-Massenverbrechen umgegangen, welche Versuche unternahm sie, die Verbrechen zu ahnden und die Verbrecher zu verfolgen?
In den ersten Jahren nach 1945 haben deutsche Gerichte – nach entsprechender Genehmigung durch die Alliierten – in einigen Fällen das Nürnberger Recht, das Kontrollratsgesetz Nummer 10, angewandt. In den allermeisten Fällen kam das zur Tatzeit geltende Recht, das deutsche Strafgesetzbuch zur Geltung. In wenigen westdeutschen Verfahren gegen Einzeltäter stand auch Personal der Vernichtungslager der »Aktion Reinhard« vor Gericht. Zu nennen sind drei Prozesse gegen insgesamt vier SS-Leute, die an der Massenvernichtung in Sobibór (LG Berlin) und Treblinka (LG Frankfurt am Main) beteiligt gewesen waren. Die Schwurgerichte verhängten eine Todesstrafe und zweimal lebenslanges Zuchthaus, ein Angeklagter wurde freigesprochen.
Personal aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde bis auf verschwindend geringe Ausnahmen zunächst aber nicht belangt. Offenbar war die westdeutsche Justiz der Auffassung, die Verbrechen von Auschwitz seien durch die Verfahren vor polnischen Gerichten – zu nennen ist der Prozess gegen Rudolf Höß vor dem Obersten Volksgerichtshof in Warschau (März/April 1947) und gegen insgesamt 40 SS-Männer und SS-Frauen in Krakau (November/Dezember 1947) – gesühnt. Auch vor amerikanischen und britischen Militärgerichten hatte sich SS-Lagerpersonal zu verantworten, das in seiner mörderischen Laufbahn auch in Auschwitz eingesetzt gewesen war. Beispielhaft dafür stehen die britischen Bergen-Belsen-Prozesse und der amerikanische Dachau-Prozess. Erst mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen Ende 1958 begannen hierzulande systematische Ermittlungen gegen Personal der Vernichtungslager.
Allein das deutsche Strafgesetzbuch, das Recht zur Tatzeit, war die Rechtsgrundlage für diese bundesdeutschen Verfahren. Zu ahnden waren jedoch Verbrechen, die in keinem Strafgesetzbuch vorkamen, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte in ihrer Dimension und in ihrer europaweiten Systematik einmalig waren. Verfahren gegen Täter aus Auschwitz kamen zunächst durch die Initiative von Überlebenden in Gang: In Stuttgart zeigte ein ehemaliger Auschwitz-Häftling den SS-Oberscharführer Wilhelm Boger an, der in Auschwitz ein sadistisches Regime geführt hatte; in Frankfurt überließ ein Holocaust-Überlebender einem Journalisten Dokumente, die Anfang 1959 für den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Handhabe waren, in Sachen Auschwitz aktiv zu werden. Der Weg von den ersten Ermittlungen gegen Auschwitz-Täter Ende der 1950er Jahre bis zum Dezember 1963, als im Frankfurter »Römer« die Hauptverhandlung »gegen Mulka und andere« begann, war also lang.
Dass der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) das bedeutendste bundesdeutsche Verfahren gegen NS-Verbrecher wurde, ist das Verdienst vieler. Zu nennen sind zuerst Überlebende wie Hermann Langbein, die sich unermüdlich auf die Suche nach Zeugen machten. Zu nennen sind auch die Davongekommen des Lagers, die sich bereitfanden, sich vernehmen zu lassen (juristisch gesprochen; der Strafjustiz als Beweismittel zu dienen). Von den Staatsanwälten, die die Ermittlungen führten und mit größter Anstrengung die Verbrechen aufzuklären versuchten, sind Georg Friedrich Vogel und Joachim Kügler zu nennen, die von Fritz Bauer Mitte 1959 beauftragt wurden, in Sachen Auschwitz tätig zu werden. Zu den beiden Justizjuristen trat im Herbst 1962 Staatsanwalt Gerhard Wiese hinzu, der bei der Abfassung der Anklageschrift und als Sitzungsvertreter der Anklagebehörde eine maßgebliche Rolle spielte. Eine entscheidende Rolle im Vorverfahren spielte auch Untersuchungsrichter Heinz Düx, der gegen alle Widerstände, die am Landgericht Frankfurt am Main – vom Präsidenten Johannes Becker bis hin zu Richterkollegen – dem Auschwitz-Verfahren entgegen gebracht wurden, die gerichtliche Voruntersuchung mit großer Sorgfalt und äußerster Konsequenz durchführte.
In der Vorbereitung des Prozesses und sodann in der Hauptverhandlung kam der Nebenklagevertretung eine große Bedeutung zu. Die Rechtsanwälte Henry Ormond und Christian Raabe vertraten 15 Nebenkläger, teils Auschwitz-Überlebende, teils Angehörige von Auschwitz-Opfern. Das Vorhaben, im Prozess die Stimme der Opfer zu Gehör zu bringen, haben die beiden Nebenklagevertreter auf hervorragende Weise umgesetzt. Nicht vergessen darf man das Schwurgericht selbst, das 20 Monate lang, an drei Verhandlungstagen in der Woche, das Verfahren trotz aller Schwierigkeiten meisterte. Obwohl der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer kein Freund von Großprozessen war, in denen es unvermeidlich auch um historische Aufklärung, um die Erforschung geschichtlicher Sachverhalte ging, brachten er und seine Richterkollegen das Verfahren mit Bravour über die Runden. Zu nennen ist auch die Verteidigung, die in ihrer Mehrheit in angemessener Form die Interessen ihrer Mandanten wahrnahm. Von einem Verteidiger wissen wir, dass er von Fritz Bauer gefragt worden war, ob er die Vertretung eines Angeklagten übernehme – Bauer lag vieles daran, dass die Angeklagten einen guten Rechtsbeistand haben.
Die »Strafsache gegen Mulka u.a.« vor dem Landgericht in Frankfurt am Main stellt den exzeptionellen Versuch dar, den Tatkomplex Auschwitz aufzuklären, das Vernichtungsgeschehen in dem Todeslager festzustellen. 360 Zeugen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende, wurden vernommen, zahllose Täterdokumente (Urkunden aus dem Archiv der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau) verlesen.
Heute, 50 Jahre nach dem Beginn des Auschwitz-Prozesses, sind das Ende der Zeitgenossenschaft und das Ende der justiziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gekommen. Die Quellenedition des Fritz Bauer Instituts zum Auschwitz-Prozess , die einen umfassenden Einblick in die bundesdeutsche Justizgeschichte ermöglicht, leistet einen wichtigen Beitrag, um die historischen Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das zweibändige Werk enthält die Anklageschrift (1963), den Eröffnungsbeschluss (1963), das Schwurgerichtsurteil (1965), das Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs (1969) und das Urteil in der Neuverhandlung gegen den einstmaligen SS-Franz Lucas (1970).
Diese bedeutsamen Quellen, mit historischen Anmerkungen und juristischen Erläuterungen versehen, geben Aufschluss über die Anstrengung der Strafjustiz, in einem rechtstaatlichen Verfahren die individuelle Schuld der Beteiligten am nationalsozialistischen Völkermord nachzuweisen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Die in dem Strafprozess gegen 20 Angeklagte erarbeiteten Erkenntnisse, die ihren Niederschlag in den ausgewählten Quellen finden, sind substanzieller Bestandteil unseres Geschichtswissens, unverlierbarer Inhalt unseres historischen Gedächtnisses geworden.
Werner Renz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main und Mitherausgeber von »Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965)