Digitalisierung, die Perspektiven der Schlüsselindustrie Automobil oder die Dekarbonisierung der Wirtschaft generell: Vielen Unternehmen fehlt es an eigenen Ideen, wie eine nachhaltige Wertschöpfung aussehen könnte. Woran liegt das?
Ana-Christina Grohnert: In vielen Unternehmen ist der Blick starr auf das Erreichen von Quartalszielen und das Erfüllen ihrer internen Kennzahlen ausgerichtet. Dabei spiegeln diese längst nicht mehr alle relevanten Faktoren wider, die für die Steuerung eines Unternehmens wichtig sind. Ich will mal ein Bild vom Autofahren verwenden: Man schaut nur auf den Drehzahlmesser und merkt gar nicht, dass die Räder auf Glatteis durchdrehen. So kommen wir nicht voran.
Wovon sprechen Sie, wenn Sie vom verborgenen Kapital reden?
Ana-Christina Grohnert: Ich sehe das auf drei Ebenen. Auf der individuellen Ebene geht es um Motivation, Engagement, Sinnstiftung und Partizipation. Darüber wird gerne geredet, aber man bemüht sich zu wenig, das auch wirklich zu ermöglichen. Auf der organisatorischen Ebene im Unternehmen müssen wir Hierarchie und Bürokratie beiseiteschieben, und Menschen wieder kreativ und produktiv zusammenwirken lassen. Das heißt unter anderem, sowohl Ziel- und Vergütungssysteme als auch Organisationsstrukturen radikal anzupassen. Und auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene geht es um stärkere Vernetzung und bessere Kooperation. Gerade Corona zeigt uns, wo wir an Grenzen stoßen, wenn wir nicht an einem Strang ziehen. Es wird über Branchen, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik hinaus mehr Partnerschaften zur schnellen Anpassung der Gesellschaft auf große Herausforderungen wie Klimawandel, soziale Ungleichheit und Digitalisierung geben müssen.
Wen genau sehen Sie im Unternehmen in der Verantwortung, dieses verborgene Kapital zu heben?
Ana-Christina Grohnert: Meiner Erfahrung nach gibt es überall in den Unternehmen kluge Leute, die längst Ideen zur nachhaltigen Wertschöpfung haben. Und ich bewundere den Mut und die Energie von vielen, die »Grassroot-Initiativen« von unten nach oben organisieren. Aber am Ende liegt die Verantwortung immer oben, beim Top-Management. Dort muss ein Umdenken stattfinden, und es ist teilweise schon im Gange. Schauen sie, wie beispielsweise der weltweit größte Vermögensverwalter BlackRock plötzlich umsteuert. Das passiert ja nicht aus reinem Altruismus, da geht es schon auch ums Geschäft und damit um Zukunftssicherung.
Was im Gegenteil steht der Bergung oft noch im Weg?
Ana-Christina Grohnert: Bergung hört sich fast so an, als sei ein Unglück geschehen. Aber es ist natürlich tatsächlich unglücklich, wenn die verborgen liegenden Wirtschaftsgüter nicht zu Tage fördern können. Ich glaube, wir müssen an zwei Stellen arbeiten. Zum einen die Zieldefinition eines Unternehmens, die noch zu oft aus Tradition und Vergangenheit eine Kontinuität für die Zukunft begründen will, die weder gesellschaftlichen noch technologischen Wandel berücksichtigt. Zum anderen geht es mir darum, dass wir Menschen im Wirtschaftsleben - ob Kunden_innen, Beschäftigte, Zuliefernde oder wen auch immer - menschlich wertschätzend und kaufmännisch fair behandeln. Ich finde Wettbewerbsdenken gut, aber es muss um die besten Lösungen gehen und nicht darum, dem anderen ein Bein zu stellen.
Nennen Sie drei wichtige Punkte, die eine zentrale Rolle spielen, wenn man den Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt stellen möchte, ohne dabei die Wertschöpfung aus den Augen zu verlieren.
Ana-Christina Grohnert: Ich glaube, es ist nur ein Kerngedanke, den wir verstehen müssen. Wertschöpfung ist ein durchgängiger Prozess in vielen Einzelschritten, bei denen unterschiedlichste Menschen beteiligt sind. Die Kette muss so gebaut sein, dass bei jedem Schritt tatsächlich ein zusätzlicher Mehrwert entsteht. Dazu müssen wir überlegen, was der jeweilige Mensch an dieser Stelle braucht, um sein Potenzial einzubringen. Ich habe das eigentlich nie anders verstanden und mich immer über Systeme gewundert, denen ihre eigenen Gewohnheiten und Routinen oder irgendwelche kurzfristigen Aspekte wichtiger waren als ein dauerhaft positives Ergebnis.
Wer sollte Ihr Buch unbedingt lesen?
Ana-Christina Grohnert: Ich bin natürlich überzeugt, dass mein Buch für alle Manager_innen, die mit ihrem Unternehmen zukunftsfähig bleiben wollen, gewinnbringend ist. Und ich würde mich sehr freuen, wenn ich jungen Menschen, die sich ein klein wenig für Wirtschaft interessieren, ein paar Fingerzeige und Anreize geben kann, sich in Unternehmen zu engagieren und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
Die Autorin
Ana-Cristina Grohnert fordert uns auf, Wirtschaft neu zu denken. Sie entwirft aus einer ökonomischen und zugleich humanistischen Perspektive das Bild einer Wirtschaft, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt, ohne die Wertschöpfung aus den Augen zu verlieren, und so verborgenes Kapital zu Tage fördert.