In Ihrem Buch »Staat im Ausverkauf« dokumentieren Sie die Privatisierungswelle seit der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Was ist die fundamentalste Folge dieses Ausverkaufs?
Tim Engartner: Im (Irr-)Glauben daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen grundsätzlich besser, billiger und bürgernäher machen, schüttelt »Vater Staat« immer mehr Aufgaben ab – wie ein Baum seine Blätter im Herbst. Inzwischen werden Märkte selbst dort geschaffen, wo es sie nie zuvor gab – oder aber nur in längst vergangenen Zeiten. Gerade erst hat die Bundesregierung beschlossen, eine Bundesfernstraßengesellschaft zu gründen, um weitere Autobahnen nach dem Modell öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP) auszubauen. Dabei übernimmt ein privater Investor die Bauleistungen, die Finanzierung sowie den Betrieb des Autobahnteilstücks. »Entlohnt« werden die Privatunternehmen durch die Beteiligung an den Einnahmen aus der Lkw-Maut oder durch direkte Bezahlung aus dem allgemeinen Staatshaushalt. Dass diese Kehrtwende im »Land der Autofahrer« möglich sein würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Zeitgleich werden immer mehr Schulen, Rathäuser und Justizvollzuganstalten von Privatunternehmen errichtet, obwohl die ÖPP-Arithmetik den Steuerzahlern langfristig deutlich höhere Kosten beschert. Die mit Privatisierungen verbundene Privatisierung der Gewinne auf Seiten der Unternehmen und die Sozialisierung der Verluste auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger ist sicherlich die fatalste Folge des Ausverkaufs öffentlichen Eigentums – neben den damit verbundenen sozialen Ausgrenzungsmechanismen.
Seit den in den 1990er Jahren angestoßenen Privatisierungen im Energiesektor steigen die Kosten, die Bürger für Wasser, Strom und Gas aufbringen müssen, stetig an. Die wenigsten Bürger aber stellen diesen Zusammenhang her. Wie kommt das?
Tim Engartner: Tatsächlich verhallte der Widerstand gegen Privatisierungen in der Vergangenheit zum einen meist ungehört, weil die Folgen zu abstrakt oder aber die Menschen nicht unmittelbar betroffen zu sein schienen. Die Privatisierung der Post fiel ins E-Mail-Zeitalter, die Privatisierung der Telekom ging mit günstigeren Telefontarifen auf einem liberalisierten Markt einher und die Privatisierung der Bahn betrifft zwar täglich zahlreiche Pendler, aber die Mehrheit der Rad- und Autofahrer eben nicht. Zum anderen wurde der Zusammenhang zwischen Privatisierung und Preissteigerungen selbst in Qualitätsmedien weitestgehend ignoriert, weil staatliche Wirtschaftstätigkeit angesichts zahlreicher Versäumnisse in der Vergangenheit nach wie vor ein tendenziell schlechtes Image hat. Ein gutes Beispiel für die verfehlte Wahrnehmung von Privatisierungen ist die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen. Die gestiegenen Gebühren sorgen zwar regelmäßig für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir unverändert die träge Verwaltung.
Inzwischen aber gibt es immer mehr Bürgerinnen und Bürger, die erkennen, dass die ausufernden Gewinne der Privatwirtschaft auf oligopolartigen Märkten wie dem Energiesektor zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Schon am 19. Juni 2000 wurde eine Entscheidung mit bundesweiter Signalwirkung für die Organisation der Trinkwasserversorgung bekannt gegeben. Nur drei Jahre, nachdem die Stadt Potsdam 49,9 Prozent ihrer Wasserbetriebe an den deutsch-französischen Konzern Eurawasser verkauft hatte, kündigte sie den Kooperationsvertrag und kaufte ihre Anteilsscheine zurück. So nahmen die Vertreter der brandenburgischen Landeshauptstadt die Ankündigung der dritten Preiserhöhung innerhalb von zwei Jahren zum Anlass, den laufenden Vertrag zu kündigen – trotz der damit verbundenen Abfindungskosten. Vor drei Jahren kaufte dann auch das Land Berlin die teilprivatisierten Wasserbetriebe von RWE und Veolia zurück, nachdem die Initiative Berliner Wassertisch Widerstand in Form eines Bürgerbegehrens formiert hatte, das 2011 zugunsten der Privatisierungsgegner mit stattlichen 98,2 Prozent für eine Offenlegung der »Geheimverträge« und eine Rekommunalisierung der Wasserbetriebe entschieden wurde. Diese Entwicklung ist in immer mehr Städten und Gemeinden zu beobachten.
Der Unmut über die Privatisierung der öffentlichen Hand hält sich in Grenzen, denn offenbar wird sie als alternativlos wahrgenommen. Ist sie das wirklich?
Tim Engartner: Nein, natürlich nicht, denn nichts im Leben mit Ausnahme des Tods ist alternativlos. Die Frage, welchen Staat und wie viel Staat wir brauchen, wird auf absehbare Zeit eine bedeutende, wenn nicht gar die zentrale Bruchlinie durch unsere Gesellschaft markieren. Deshalb müssen wir noch mehr Antworten auf die Frage liefern, welche Risiken mit Privatisierungen einhergehen. Zugleich belegen immer mehr Städte und Gemeinden, dass kommunale Wirtschaftstätigkeit sehr erfolgreich sein kann. So zweifeln seit geraumer Zeit immer mehr Bürgermeister am allseits proklamierten »Verkauf des Tafelsilbers«. Zunehmend werden sie mit der Frage konfrontiert, warum der Hausmüll von den privaten Branchenriesen Remondis, Sulo oder Veolia entsorgt wird, obwohl die Preise doch in fast allen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung privatisiert wurde, in die Höhe schnellten – mitunter um das Dreifache. Die Kritik von Bürgerinnen und Bürgern veranlasst immer mehr Politikerinnen und Politiker, nach Alternativen zur Privatisierung Ausschau zu halten. Das wachsame Auge der Öffentlichkeit ist die wirksamste Waffe im Kampf gegen Privatisierungen.
Sie schreiben, dass Privatisierungen nicht selten »im Verborgenen« vor sich gehen. Als Paradebeispiel nennen Sie die Deutsche Bahn. Wie ist eine solche »Geheimhaltung« überhaupt möglich?
Tim Engartner: Die Deutsche Bahn liefert insofern ein besonders eindringliches Beispiel, als sie 2006 mit der »Verschlossenen Auster« ausgezeichnet wurde – dem von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e.V. verliehenen Negativpreis für »Auskunftsverweigerer in Politik und Wirtschaft«. Wesentliche Informationen drängen bis heute nicht an die Öffentlichkeit; die Bahn zieht Werbeanzeigen in Medien, die kritisch berichten, zurück. Als einer der größten Anzeigenkunden im deutschen Verlagswesen und als Abnehmer großer Zeitungskontingente für Erste-Klasse-Reisende und DB-Lounges kann die Bahn die Berichterstattung beeinflussen. So bleiben viele Folgen ihrer Privatisierung im Dunkeln.
Ohne subtilen Lobbyismus wäre keine Privatisierung denkbar – weder im Bildungs- noch im Finanz-, Gesundheits- oder Sicherheitssektor. Gerade in diesen Politikfeldern stehen Lobbyisten die Türen zu den politischen Stellwerken teils sperrangelweit offen. Privatwirtschaftliche Interessen erhalten darüber hinaus durch »janusköpfige« Parlamentarier Einzug in die Plenarsäle: Zahlreiche ranghohe Politiker werden nach ihrem Mandat durch die lobbyistische Drehtür auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft befördert. Ronald Pofalla (CDU) stellt da mit seinem Wechsel in den Vorstand der Deutschen Bahn AG keine Ausnahme dar. Viele Parlamentarier gehen bekanntlich schon während ihrer aktiven Zeit als Mandatsträger zeitintensiven »Nebentätigkeiten« in der Wirtschaft nach, um Privatisierung möglichst geräuschlos den Weg zu bereiten.
Sie bezeichnen ihr Buch als »Weckruf«. Wen möchten Sie aufwecken?
Tim Engartner: Aufgeweckt werden sollen all jene, die sich zunächst einmal nur sorgen – um ihre Sportstätten und Kultureinrichtungen vor Ort, um das berufliche Schicksal der Paketboten und Bahnschaffner, um ihre Gesundheitsversorgung und ihre Rente – oder aber auch um die Bildung ihrer Kinder. Erfahrungsgemäß betrifft der Verkauf öffentlichen Eigentums vorrangig Personenkreise ohne politische Lobby, die für eine boomende Wirtschaft nur von geringer Bedeutung sind oder eine sehr heterogene Wählerschaft bilden wie zum Beispiel Schüler und Studierende, Erwerbslose, einkommensschwache Familien oder Menschen mit Behinderungen. Aber wir sollten alle wachsam sein, wenn die Gewinn- an die Stelle der Gemeinwohlorientierung tritt – jedenfalls dann, wenn wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, die von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt. Kurzum: Das Buch richtet sich an all jene, denen die »Verbetriebswirtschaftlichung« der öffentlichen Daseinsvorsorge Bauch- und Kopfschmerzen bereitet.
Zum Autor
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in Tages- und Wochenzeitungen (Zeit, FAZ, FR, taz, Freitag, SZ).
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