Die eigene Leistungsfähigkeit, Stress-Resilienz und sogar Führungskompetenz hängen direkt mit einer guten und bewussten Atmung zusammen – wie kommt das?
Christoph Glaser: Der Atem hat Einfluss nicht nur auf unsere Emotionen, sondern er ist auch die wichtigste Energiequelle, die uns zur Verfügung steht.Er bietet uns einen direkten Zugang zum automomen Nervensystem.
Lassen Sie uns zuerst das Thema Emotionen anschauen: Über den Tag verändert sich unser Atem, von tief zu flach von stockend zu fließend. Wissenschaftler:innen konnten zeigen, dass jede Emotion mit einem bestimmten Atemrhythmus korrespondiert. Und diese Verbindung zwischen Emotionen und Atem ist keine Einbahnstraße. Das heißt: Über die Art und Weise wie wir atmen, können wir unsere Emotionen und unseren Geist beeinflussen!
Atem gibt uns Sauerstoff und Energie, aber die meisten Menschen atmen viel zu flach und nutzen nur 60-70% ihrer Lungenkapazität. Mihilfe des Atems können wir unser Energieniveau erhöhen und unser Mindset positiv beeinflussen. Wenn wir uns schlapp und müde fühlen, sind wir tendenziell pessimistsch. Wenn wir energiegeladen sind, sehen wir die Welt und und selbst viel positiver.
Auch für das Stressmanagement ist der Atem essenziell. Wenn wir etwa lange, tiefe Atemzüge nehmen, aktiviert das augenblicklich das parasympathische Nervensystem, so dass wir Ruhe und Entspannung erfahren können. Und das nicht nur auf geistiger Ebene, sondern auch auf physiologischer Ebene. Der Atem ist also eine wertvolle Ressource, die die meisten Menschen viel zu wenig nutzen.
Sie sagen: Mehr als zwölf Minuten täglich muss man nicht unbedingt investieren. Was etwa passiert in diesen zwölf Minuten der atembasierten Achtsamkeit?
Christoph Glaser: Untersuchungen haben gezeigt, dass schon kleine Portionen von Achtsamkeit und Atemübungen einen großen Effekt erzielen können. Es gibt eine Studie die zeigt, dass der Effekt einer zehnminütigen regelmäßigen Achtsamkeitspraxis die gleichen Effekte auf die Achtsamkeit der Studienteilnehmenden hatte, wie eine 20-minütige Praxis. Zwölf Minuten reichen daher vollkommen, um in einem ersten Schritt die positiven Effekte von atembasierter Achtsamkeit zu erfahren, vorausgesetzt man tut dies regelmäßig, am besten fünfmal pro Woche.
»Entschleunigung ist keine Verlangsamung«, sagen Sie. Was meinen Sie damit?
Christoph Glaser: Das mag sich erstmal paradox anhören, aber Entschleunigung kann uns helfen, effektiver, produktiver und vor allem gesünder unser Berufsleben zu bestreiten. Gerade in einer Welt, die sich so rasant verändert, ist innere Stabilität immer wichtiger. Im Jahr 1920 betrug die durchschnittliche Lebensdauer eines Unternehmens 67 Jahre, heute sind es nur noch 15. Einige Studien gehen davon aus, dass in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren 40 Prozent der heutigen Unternehmen nicht mehr existieren werden. Demensprechend spüren viele Unternehmen den Druck, sich ständig zu entwickeln, und dieser Druck äußert sich bei Führungskräften darin, dass sie bildlich gesprochen mit 250 km/h unterwegs sind, drei Dinge gleichzeitig tun und von einem Meeting ins nächste hetzen. Ich bin der Überzeugung, dass es beides braucht, Schnelligkeit und ein hohes Maß an innerer Ruhe, damit wir wirklich flexibel und agil sein können.
Was sind beispielhafte Situationen, in denen man Ihre Atemübungen ad hoc einsetzen kann, um innerlich zur Ruhe zu kommen oder den eigenen Fokus zu schärfen?
Christoph Glaser: Wir unterscheiden zwischen zwei Arten von Achtsamkeitsübungen. Mit sogenannten Makro-Momenten stärkt man langfristig und nachhaltig seine Präsenz und Resilienz. Wenn man also zwölf Minuten täglich praktiziert, dann ist das ein Makro-Moment, mit dem man seine Fähigkeit stärkt, auch in stressigen und herausfordernden Situationen präsent zu bleiben.
Mikro-Momente dagegen sind Techniken, die man ad hoc, während man sich in einer kritischen Situation befindet, anwenden kann. Gerade heute hatte ich ein Coaching mit einer Führungskraft, die für eine neue Position ein Vorstellungsgespräch mit zehn Evaluatoren hat. Natürlich ist man in einer solchen Situation angespannt. Wenn dann der Druck auf ein gewisses Level ansteigt, können wir nicht mehr optimal performen. Hier können somatische Ansätze wie die Arbeit mit dem Atem helfen. Wenn wir aufgeregt sind, reflektiert sich das direkt in der Art und Weise wie wir atmen. Seine Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten und einfach für ein paar Momente den Atem zu beobachten, ohne dass es ein Außenstehender bemerkt, kann augenblicklich die Anspannung reduzieren.
Wenn auf physiologischer Ebene die Anspannung und der Stress nachlässt, absorbiert die Amygdala weniger Energie und dadurch kann der Präfrontale Kortex, den wir für rationales, anspruchsvolles Denken benötigen, wieder besser arbeiten. Eine Führungskraft ist in der Lage ihr normales Leistungsniveau abzurufen, auf welche sie sonst nicht hätte zugreifen können.
Sie haben mit ihren Seminaren die ganze Welt bereist und viele beeindruckende Persönlichkeiten getroffen. Was ist der größte Gewinn Ihrer Reisen gewesen, die sie für Ihre Arbeit verwenden konnten?
Christoph Glaser: Ich bin sehr dankbar, dass ich in den letzten 20 Jahren mehr als 60 Länder der Welt besuchen durfte. Ich durfte so viele Kulturen und auch Arbeitskulturen kennenlernen. Was ich aus den Reisen für mich mitnehmen konnte, ist, dass ich mir der Relativität meines eigenen Denkens bewusst geworden bin. Das, was ich die „Welt“ nenne, ist die Summe meiner Erfahrungen und Reflektionen, die für jemand anderen ganz anders aussehen kann. Ich habe also gelernt, dass jeder Mensch ganz unterschiedlich auf Situationen blickt, Dinge interpretiert und versteht. Für meine Arbeit habe ich gelernt, dass jeder eine eigene Ansprache braucht. Das ist nicht nur zwischen Kulturen unterschiedlich, sondern kann sogar im gleichen Team oder in der Familie verschieden sein. Als Trainer ist es wichtig, bei der Ansprache und beim Vermitteln die richtige Sprache zu finden, die die Person wirklich anspricht und auf sie zutrifft.
Besonders geprägt hat mich mein mehrmonatiger Aufenthalt in einem Palast in Saudi-Arabien, sowie meine Aufenthalte in Asien, wo ich mehr zu Hause gefühlt habe. Doch auch wie unterschiedlich wir Menschen auch sein mögen, im Kern sind wie alle gleich. Wenn wir gestresst sind, ist unser Geist unruhig, wir haben viele Gedanken an die Zukunft und an die Vergangenheit, wir sind wenig präsent. Wir alle, egal woher wir kommen, haben den gleichen Atem, der die gleichen emotionalen, mentalen und physiologischen Effekte hat.
Sie beraten vor allem Menschen im beruflichen Kontext. Eignet sich Ihr Buch auch für die Anwendung im privaten Rahmen?
Christoph Glaser: Auf jeden Fall. Wir alle haben ja nur einen Atem und nicht einen für den Beruf und einen für privat. Wenn wir gestresst sind, dann verlieren wir eher mal die Nerven, zeigen ein reaktives Verhalten und bezahlen dann einen Preis dafür. Zuhause und im Beruf.
Gerade wenn es um den Umgang solchen Situationen geht, kann der Atem enorm hilfreich sein.
Studien zeigen, dass schon das reine Beobachten des Atems in stressigen Situationen einen positiven Einfluss auf uns haben kann. Das TLEX Institute hat sich darauf spezialisiert, Menschen im beruflichen Kontext atembasierte Achtsamkeit näher zu bringen. Das Thema vermitteln wir so, dass es auch im beruflichen Kontext akzeptiert wird. Dafür braucht es zum einen die richtige Sprache, die wissenschaftliche Untermauerung und zum anderen, dass wir immer wieder einen Bezug zu der Lebens- und Arbeitswelt von Führungskräften herstellen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Christoph Glaser ist Geschäftsführer des TLEX-Institutes, das mit 200 Trainern weltweit agiert und bereits mehr als 500.000 Führungskräfte und Mitarbeiter:innen trainiert hat. Seit über 20 Jahren vermittelt er in über 50 Ländern weltweit seine Methode zur gelassenen Leistungsoptimierung.
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