Coronomics ist ein Kunstbegriff aus Corona und Economics. Was genau verstehen Sie darunter?
Daniel Stelter: Die Wortschöpfung Coronomics – also die Kombination aus Corona und Economics, den Wirtschaftswissenschaften – habe ich bewusst gewählt. Der Corona-Schock ist der Auftakt zu einer neuen Phase der Wirtschaftspolitik. In den kommenden Jahren werden wir wirtschaftspolitische Maßnahmen erleben, die noch bis vor Kurzem undenkbar schienen. Die Notenbanken werden weltweit noch massiver und noch offener in die direkte Finanzierung der Staaten eintreten. Die Globalisierung wird zurückgedreht, die Staaten werden sich deutlich mehr in die Wirtschaft einmischen. Es ist quasi Höhe- und Wendepunkt zugleich. Was mit der Finanzkrise begann, kommt in eine neue Dimension.
Sie sind überzeugt, dass Coronomics kommt. Warum ist das aus Ihrer Sicht unausweichlich?
Daniel Stelter: Schon vor dem Corona-Schock stand die Weltwirtschaft vor erheblichen Problemen. Wir haben uns trotz massiver Interventionen der Notenbanken nie von der Finanzkrise erholt. Das Wachstum blieb deutlich hinter dem Vorkrisenniveau zurück, während die Verschuldung von Staaten und Privaten immer weiter anstieg. Deshalb wurden bereits weitreichende wirtschaftspolitische Maßnahmen für den Fall einer erneuten Rezession diskutiert. Diese kommen nun alle viel rascher und radikaler auf den Tisch.
Ist Corona ein Brandbeschleuniger für Probleme der Wirtschaft und Gesellschaft, die schon lange existieren?
Daniel Stelter: Ganz eindeutig. Der wirtschaftliche Schock der Bekämpfung des Virus ist nur der Auslöser und ich würde sagen, sogar die willkommene Ausrede für politische Maßnahmen, die schon seit Jahren vorgedacht werden. Seit Jahrzehnten setzt die Wirtschaftspolitik auf immer mehr Schulden und immer billigeres Geld. Die Nebenwirkungen sind bekannt: Spekulation, Blasen an den Finanzmärkten, abnehmende Produktivitätszuwächse und ein steigender Anteil an Unternehmen, die nur dank Nullzins-Politik überhaupt noch existieren, die sogenannten »Zombies«.
Was muss Deutschland jetzt unbedingt tun, um die Wirtschaft nachhaltig zu stabilisieren und die Eurozone zu stärken?
Daniel Stelter: Es war richtig, die finanzielle »Bazooka« herauszuholen, wie Bundesfinanzminister Olaf Scholz formulierte, und die Wirtschaft in großem Umfang zu unterstützen. Falsch war es allerdings, dabei auf Kredite für Unternehmen zu setzen. Viele Unternehmen werden gar nicht in der Lage sein, diese zu bedienen. Und selbst jene, die es könnten, würden bei Inanspruchnahme dann über Jahre nicht in der Lage sein, zu investieren und zu innovieren. Das belastet das Wachstum. Wir brauchen deshalb eine rasche Lösung für diese Schulden und zugleich ein Programm, was Wachstum in Deutschland nachhaltig stärkt. Dies bedeutet mehr Investitionen von Staat und Privaten und eine Abkehr von der »schwarzen Null«. Auf Ebene der EU müssen wir intelligente Wege finden, die hoch verschuldeten Staaten zu unterstützen. Einige Ansätze dazu schildere ich in meinem Buch.
Wie sollen wir konkret mit den Schulden umgehen, die wir während des Shutdowns angesammelt haben?
Daniel Stelter: In Deutschland beginnt bereits die Diskussion darüber, die Staatsschulden mit hohen Steuern und Vermögensabgaben abzubauen. Dies halte ich für grundlegend falsch. Zum einen, weil es die Erholung dämpft, zum anderen, weil wir den Euro mit anderen Staaten teilen, die bereits früher entsprechende Probleme mit Hilfe der Notenbank gelöst haben. Ein anderer Weg ist angesichts der hohen Schuldenstände unmöglich. Deshalb wird die EZB – mehr oder wenig elegant verpackt – die Finanzierung der Staatsschulden übernehmen. Da wir das nicht verhindern können, sollte Deutschland nicht Geisterfahrer spielen, sondern mitmachen und auch einen Teil der Staatsschulden auf diesem Weg abbauen.
Wie lange werden wir uns noch mit der Corona-Krise und ihren Folgen auseinandersetzen?
Daniel Stelter: Die Folgen der Krise werden das Jahrzehnt prägen. Neben dem Problem einer absehbar schwachen Erholung, einer wieder aufflammenden Eurokrise und zunehmenden Spannungen in der EU werden die politischen Eingriffe zur Stimulierung der Wirtschaft zu erheblichen Umbrüchen führen. Auch diese waren – wie beispielsweise der Green Deal der EU – bereits vor der Krise absehbar, werden nun aber durch die Finanzierung über die Notenbanken eine völlig neue Dynamik entfalten. Es wird ein ausgesprochen turbulentes Jahrzehnt werden – mit Chancen, aber auch mit erheblichen Risiken.
Was hat Deutschland richtig gemacht, bisher?
Daniel Stelter: Richtig war die rasche Mobilisierung finanzieller Mittel, um einen noch tieferen Absturz zu verhindern. Sorgen machen mir hingegen die fehlende Kreativität im Umgang mit den Schuldenproblemen der anderen Länder der Eurozone, der Ruf nach einem raschen Abbau der zusätzlich anfallenden Staatsschulden und die einsetzende Diskussion über höhere Steuern und Abgaben. Genau das Gegenteil sollte getan werden, um Deutschland zukunftsfähig zu machen, stehen wir doch keineswegs so gut da, wie die Politik es gern vermittelt. Der Strukturwandel unserer Schlüsselindustrien trifft uns zu einer Zeit, in der die Erwerbsbevölkerung sinkt und die Produktivität seit Jahren stagniert. Hier müssen wir dringend handeln und der Corona-Schock könnte die Chance bieten, endlich zur Tat zu schreiten.
Die Gefahr ist groß, dass unsere Politik diese einmalige Chance zur Neuausrichtung unseres Landes verpasst. Vor der Finanzkrise 2009 lautete die Antwort an Wall Street, wer denn den Schrott kaufe: „Stupid German Money“. Ich fürchte wir blicken in zehn Jahren zurück und müssen angesichts des großen Spiels der Monetarisierung von Schulden über die Bilanzen der Notenbanken feststellen, dass »Stupid German Politics« erneut deutschen Wohlstand verschleudert hat.
Dr. Daniel Stelter ist Bestseller-Autor und Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Forums beyond the obvious (Website und Podcast). Er ist Experte für Wirtschafts- und Finanzkrisen und berät internationale Unternehmen und Investoren zu den Herausforderungen der sich stetig wandelnden globalen Märkte.