Wissenschaft

»Die aktuelle Ungewissheit zwingt zur Reflexion über bisherige Formen des Produzierens und Zusammenlebens.« Tanja Bogusz

Das Buch von Tanja Bogusz, »Experimentalismus und Soziologie«, hat in der aktuellen Krisensituation eine neue Aktualität gewonnen. Die Soziologin erklärt im Interview mit campus.de, warum die aktuelle »globale Laborsituation« auch ein Moment der kreativen Veränderung sein kann.

Ihr Buch, »Experimentalismus und Soziologie« hat mit der Corona-Krise eine ganz neue Aktualität gewonnen, warum?

Tanja Bogusz: Wir befinden uns in einer globalen Laborsituation. Egal ob in der Politik, in der Kultur, in der  öffentlichen Debatte: Die Corona-Krise macht offensichtlich, was ich in meinem Buch als allgemeine Basis gesellschaftlichen Wandels beschreibe: Krisensituationen rufen das Austesten neuer, unbekannter Handlungen hervor, deren Ergebnis offen und unbekannt ist. Wir wurden auf ungewisses Terrain geworfen und müssen uns erstens an ganz neue Arbeits- und Lebensbedingungen anpassen, zweitens Lösungen entwickeln – z.B. einen neuen Impfstoff –, und schließlich drittens Kompetenzen entfalten, die es uns ermöglichen, diese Situation so sozialverträglich wie möglich zu bewältigen. In meinem Buch greife ich John Dewey, den US-amerikanischen Pragmatisten auf, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts meinte, dass diese drei Fertigkeiten – Anpassung (ausgehend von gemachten Erfahrungen), Prüfung und Kooperation das Grundrepertoire des sozialen Zusammenhaltes ausmachen. Ungewissheit ist also nichts schlechtes per se – im Gegenteil. Sie macht uns demütig, zwingt zur Reflexion über bisherige Formen des Produzierens, des Zusammenlebens, der sozialen und kulturellen Anerkennung. Im Experiment hat Ungewissheit eine eminent produktive Funktion: Sie ist die Voraussetzung für Kreativität und neue Erkenntnis.

 

Sie sagen, dass wir uns in einer Art »globalen Laborsituation« befinden – wir bewegen uns in einem Experiment, dessen Ergebnis wir noch nicht kennen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Tanja Bogusz: Ein erster wichtiger Schritt ist bereits passiert – wenn auch nicht überall. Viele Regierungen, aber auch die Medizin und die Naturwissenschaften haben erkannt, dass das “auf Sicht fahren”, ebenso wie das damit verbundene Nichtwissen gerade nicht gleichzusetzen ist mit der Unfähigkeit, zu handeln. Das ist eine extrem wichtige gesellschaftliche Erfahrung, aber auch eine Erkenntnis, die uns in einen ganz anderen Modus versetzt – einfach gesagt: die Praxis ist gefragt, ja sie ist sogar zentral. Ohne immer dazu aufgefordert worden zu sein, werden Menschen produktiv: Nachbarschaftliche Unterstützung, Spenden für ökonomisch Benachteiligte, die Umstrukturierung von Betrieben, der Digitalisierungsschub sind hier nur einige Beispiele. Der Wunsch, sozialen Zusammenhalt zu stärken und zu halten, ist ungeheuer groß. Zugleich gibt es natürlich auch diejenigen, die aus der Unsicherheit politisches Kapital zu schlagen suchen.

 

Welche gedanklichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sind nötig, wenn wir die Krise als Chance begreifen wollen?

Tanja Bogusz: Pandemien können nicht national bekämpft werden. Wenn die Gesundheitskrise nicht dazu führt, dass die Weltgesellschaft so schnell wie möglich wieder zur alten “Normalität” zurückkehrt, dann liegt hier eine – vielleicht einzigartige – Chance, den bisherigen spätmodernen Way of Life radikal zu überdenken. Es liegen zahlreiche naturwissenschaftliche Studien über den Zusammenhang zwischen der ökonomischen Landnahme und der Entstehung und Ausbreitung tödlicher Viren vor. Entsprechende Epidemien und Pandemien wie SARS-Covid 2, Ebola, etc. sind auf das Engste mit dem Biodiversitätsverlust und dem Klimawandel verknüpft. Es braucht eine entsprechend grundlegende sozialökologische und -ökonomische Transformation im Anthropozän – und die Bereitschaft und Neugier für die Entwicklung entsprechender Experimentierfelder und “Reallabore”. Wenn es gelingt, nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch die Medizin, sowie die Natur- und Sozialwissenschaften in diesen Prozess zu integrieren, können die positiven Effekte der Krise dauerhaft verankert werden.

 

Aber kann die Politik das Experimentelle als positiven Impuls auf unsere gemeinsame Zukunft befördern?

Tanja Bogusz: Sie muss es sogar, wenn die in vielen Teilen der Welt stabilisierte Polarisierung aus “Etablierten” und “Außenseitern” (Norbert Elias) aufgebrochen werden soll. Sowohl Hilfsbereitschaft und Empathie, als auch Ausgrenzung und Gewalt erleben in Krisensituationen immer Hochkonjunktur. Es gibt ernstzunehmende ökonomische, politische und ökologische Gefährdungen, aber auch sehr bewegende Einsätze für das soziale und kulturelle Gemeinwohl. Sie zeigen, dass die Krise weder durch schöne Sonntagsreden, noch durch akademische Fernanalyse behoben werden kann. In meinem Buch habe ich die experimentalistische Einstellung daran festgemacht, dass Krisen als Chancen verstanden werden, vielfältige soziale Erfahrungswelten in kooperatives Handeln zu übersetzen. Die produktiven Effekte der Krise wären demnach eine wichtige Voraussetzung für die Übersetzung der aktuellen globalen Laborsituation in eine sozial gerechtere und ökologisch nachhaltigere Zukunft – ganz im Sinne eines »demokratischen Experimentalismus«, wie ihn Dewey vor fast einem Jahrhundert vorgedacht hatte.

 

Tanja Bogusz ist Gastprofessorin an der Universität Kassel, wo sie seit 2016 das Fachgebiet Soziologie sozialer Disparitäten leitet.

 

20.05.2020

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Experimentalismus und Soziologie
Experimentalismus und Soziologie
Hardcover gebunden
39,95 € inkl. Mwst.