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Wirtschaft und Gesellschaft

»Die Frauen sind Eigentum, Druckmittel oder Alibi, um ein von Männern dominiertes politisches Handeln zu rechtfertigen.« Shikiba Babori

Shikiba Babori, Journalistin und Ethnoligin, hat ein spannendes Buch über Frauen in Afghanistan geschrieben. Hier im Interview mit campus.de erzählt sie von Ihren Erfahrungen, Gesprächen und Analysen. Lesenswert!

Sie haben ein augenöffnendes Buch über die Frauen in Afghanistan geschrieben. Afghaninnen, so ihre Kritik, wurden im Zuge der (politischen) PR-Strategien des Westens immer wieder vereinnahmt. Wie sah und sieht das konkret aus?

Shikiba Babori: Das Schicksal der afghanischen Frauen war immer schon eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber und Invasoren im Land verknüpft. Zurückverfolgen lässt sich das bis zur Staatsgründung Afghanistans im Jahr 1921. Das Leben, die persönlichen Rechte und die Zukunft der Frauen dienten stets als Instrument der nationalen wie der internationalen Politik. Egal, ob Engländer, Sowjets, Mujaheddin, Pakistan Taliban oder die USA, sie nutzten allesamt die Frauen in Afghanistan, um ihre Politik durchzusetzen, ihren Gegner zu schwächen oder ihren Einsatz zu legitimieren. Die Frauen sind – wie es gerade passt – Eigentum, Druckmittel oder Alibi, um ein ausschließlich von Männern dominiertes politisches Handeln zu rechtfertigen. Bei ihrem militärischen Einsatz vor 20 Jahren hat die NATO genau in die gleiche Kerbe geschlagen: Viele Jahre nach Beginn der Invasion 2001 waren die Gründe für den Einsatz der NATO in Afghanistan nicht eindeutig definiert. Legitimiert wurde er aber vor allem mit der Befreiung der afghanischen Frauen. Afghanische Frauen wurden also für politische Belange instrumentalisiert, um nicht zuletzt durch sie auch auf emotionaler Ebene Kriegsgeschehen zu rechtfertigen. Dass hinter dieser Methode ein System steckte, wurde mit der Veröffentlichung vertraulicher und geheimdienstlicher Dokumente 2010 auf wikileaks.org bekannt: Demnach nutzte die CIA die afghanischen Frauen und ihre prekäre Situation bewusst, um der ISAF-Mission eine humanitäre Note zu geben. Genau heißt es darin: »Die afghanischen Frauen sind der ideale Botschafter, um den Kampf der ISAF-Truppen gegen die Taliban human erscheinen zu lassen. (…) Wir brauchen reichweiten-starke Medien, in denen afghanische Frauen ihre Erfahrungen mit französischen, deutschen und anderen europäischen Frauen teilen können, damit gerade die bei europäischen Frauen stark vorhandene Skepsis gegen die ISAF-Mission abgebaut werden kann.«
Aber auch heute, ein Jahr nach dem überstürzten Abzug der NATO und ihrer Verbündeten, wird die Auseinandersetzung der Politiker und der  Erfolg und Misserfolg der Afghanistan-Mission anhand der Situation der Frauen gemessen und begründet. Die afghanischen Frauen werden erneut instrumentalisiert, um politische Stärke zu beweisen.

 

Sie beleuchten in Ihrem Buch die Frauenrechte in Afghanistan über viele Jahrzehnte: Gab es schon einmal »rechtssichere Zeiten« für Frauen in Afghanistan?

Shikiba Babori: Die Situation der Frauen ist in Afghanistan zwischen Land und Stadt sehr unterschiedlich und daher kann ein allgemeingültiges Rechtssystem, das für alle gilt, nie durchgesetzt werden. Die Rechte, die den afghanischen Frauen zugestanden werden, orientieren sich im Großen und Ganzen an dem islamischen Recht der Scharia, das aber von Ort zu Ort und je nach Bildungsstand frei interpretiert wird. Erschwerend kommt hinzu, dass sich diese Interpretation des Rechts mit lokalen traditionellen Regeln vermischt. Somit steht der männlichen Bevölkerung ein breites Instrumentarium zur Verfügung, die Rechtsauffassung willkürlich nach ihren Bedürfnissen anzupassen. Die Rechte der Frauen sind somit nicht nach den Prinzipien der Menschenrechte geregelt, sondern nach dem, was den Frauen je nach Zweck und Vorteil zugewiesen wird. Ein Umstand, der die Instrumentalisierung der afghanischen Frauen enorm erleichtert.

 

Eine Ihrer Thesen lautet: Eine Verfassung ist nur so stark, wie der Rückhalt der Menschen, die sie tragen. Was heißt das für die gegenwärtige Situation?

Shikiba Babori: Unter dem Druck des Westens wurden den afghanischen Frauen in der letzten afghanischen Verfassung von 2004 – wenn auch nur auf dem Papier – die gleichen Rechte zugebilligt, wie den Männern. Dies war ein absolutes Novum, denn in den Verfassungen zuvor waren die Frauen mit keinem Wort erwähnt. Sie spielten bis dahin im Rechtssystem keine Rolle. Im Hinblick auf die Rechte der Frauen galt sie im Vergleich zu den Verfassungen der Nachbarländer Afghanistans als sehr fortschrittlich.
Ein Detail verschwieg man im Westen allerdings: In der gleichen Verfassung stand auch, dass Gesetze, die im Widerspruch zu den Grundsätzen des Islams stehen, keine Gültigkeit haben. Die afghanische Regierung positionierte sich somit zwischen den Stühlen. Mit der Anerkennung der Menschenrechte wurde der Westen besänftigt, mit der des islamischen Rechts das traditionell denkende afghanische Volk. Dieser Umstand machte es nicht nur den Taliban leicht, die Verfassung auszuhebeln oder in ihrem Sinne zu deuten. 


Sie erzählen Geschichten von Frauen, die in Städten und auf dem Land täglich ihr Leben riskieren, um anderen Mädchen und Frauen Lesen und Schreiben beizubringen. Wie sieht so eine »heimliche Bildung« konkret aus?

Shikiba Babori: Mädchen, die eine höhere Schule besucht oder Frauen, die zuvor als Lehrerinnen oder Dozentinnen gearbeitet haben, unterrichten Kinder, denen ein Schulbesuch verwehrt wird. Dabei ist es wichtig, dass sie nicht auffallen, deshalb dürfen es nicht zu viele Kinder sein und sie dürfen auch nicht zur gleichen Zeit kommen. Frauen erzählten mir, dass sie für den provisorischen Unterricht ihren Kellerraum, das Wohnzimmer oder das Schlafzimmer zum Klassenzimmer umgestellt hätten. Täglich unterrichten sie drei bis vier Gruppen von Kindern, die zu ihnen in die »Privatschulen« kommen, in denen meist ohne Tafel und Kreide gelehrt wird. Die meisten Kinder sind im Grundschulalter und lernen rudimentär lesen, schreiben und rechnen. Eine Lehrerin aus Kabul, die selbst drei Kinder hat, erzählte mir, dass sie auf diese Weise 250 Kinder heimlich unterrichtet hätte.

 

Was braucht es, damit Frauen in Afghanistan nachhaltig ein sicheres Leben gewährleistet werden kann?

Shikiba Babori: Der Hass und die Verachtung Frauen gegenüber muss dringend überwunden werden. Nachhaltig hilft dabei sicherlich Bildung. Aber auch, wie bereits in anderen islamischen Ländern gefordert, eine sexuelle Revolution. Denn das Thema Sexualität ist in Afghanistan, wie in vielen islamischen Länder, extrem tabuisiert. Die patriarchale Gesellschaft wird dadurch übersexualisiert. Es wird verhindert, dass Männer und Frauen zusammenkommen, weil man befürchtet, dass es bei einer solchen Gelegenheit zu einer sexuellen Handlung kommt. Die Folge daraus ist, dass eine extreme Geschlechter-Apartheid entsteht. Das macht wiederum die Gesellschaft unfrei, schließt Frauen kategorisch aus und verhindert, dass sie selbstbestimmt und selbstständig sind.

 

 

Was müssen wir im Westen ändern?

Shikiba Babori: Wir im Westen müssen dringend unsere Haltung ändern und nicht nur aus Eigeninteresse und auf die eigenen Vorteile bedacht agieren. Sicherlich hatte es für Deutschland eine große außenpolitische Bedeutung, in der Riege der Weltmächte mitzuspielen, als es dem US-Ruf gefolgt ist und im Jahr 2001 Soldaten nach Afghanistan gesandt hat. In so einem Fall muss es aber auch klar sein, dass diese Art der Beteiligung den Menschen gegenüber auch eine humanitäre Verpflichtung bedeutet. Der Westen hat damals dem afghanischen Volk, das jahrelang zwischen den Mühlen der auf ihrem Territorium ausgetragenen Stellvertreterkriege zermahlen wurde, eine bessere und eigenständige Zukunft versprochen. Ein Versprechen, das mit dem übereilten Abzug nicht eingehalten wurde.

In meinem Buch »Die Afghaninnen – Spielball der Politik« schildere ich auch weitere Facetten und Hintergründe, die die Weltgemeinschaft kennen muss, bevor sie jemals wieder versucht, die afghanische Bevölkerung, Vor allem aber die afghanischen Frauen im Interesse der eigenen Politik zu instrumentalisieren.
 

Herzlichen Dank für das Gespräch.

21.07.2022

Wirtschaft & Gesellschaft

Die Afghaninnen
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