Herr Sprenger, zum Thema Führung ist schon eine Menge geschrieben worden. Was ist neu an Ihrem Buch?
Reinhard K. Sprenger: In der Tat gibt es dazu schon einige Regalmeter und ich habe mich an dieser Produktion ja auch beteiligt. Vieles davon ist aber sehr zeitorientiert, modisch. Häufig werden Detailaspekte zu dem Entscheidenden aufgeblasen, aber das große Bild wird nicht gesehen. Darum ging es mir: Ich wollte die Fundamente, die Grundpfeiler, das Wesentliche formulieren, das, was wirklich jede Führungskraft zu beachten hat. So grundsätzlich hat meines Wissens bisher noch niemand gefragt. Und insofern ist mein Buch radikal.
Nehmen wir die Kernaufgabe »Zusammenarbeit organisieren«. Klingt doch eigentlich gar nicht besonders radikal?
Reinhard K. Sprenger: Mag sein – aber dann erklären Sie mal einem Vorstand, dass es sein Job ist, das wechselseitige Dienen im Unternehmen zu befördern und vor allem: selbst zu dienen! Zum einen ist vielen gar nicht klar, in welchem Maße Menschen in Organisationen wechselseitig voneinander abhängig sind – also nicht nur die unten von denen oben, sondern auch umgekehrt. Zum anderen sind manche so sehr in ihr Hierarchiedenken verstrickt, dass man ihnen erst wieder eintrichtern muss: »Ohne deine Mitarbeiter bist du handlungsunfähig und ohne deine Kunden schlicht ein Nichts.«
Wenn das in Unternehmen in Vergessenheit gerät, wer versagt in solchen Fällen: der Einzelne oder das System?
Reinhard K. Sprenger: Unmöglich, das allgemein zu beantworten. Aber für Führungskräfte relevanter sind sicher die Probleme im System. Sie zu lösen, das ist ihr Job – nicht das Ummodeln einzelner Mitarbeiter. Denn selbst die Engagiertesten haben kaum eine Chance, sich gegen strukturelle Schieflagen durchzusetzen. Ein Manager muss sich also fragen: Welche Abläufe in unserer Firma behindern Zusammenarbeit? Welche Instrumente machen Kooperation unwahrscheinlich? Das ist sein Führungsauftrag – und nicht irgendeine »Erziehung« von Mitarbeitern. Die lässt er besser seinen Kindern angedeihen und nicht den erwachsenen Menschen, mit denen er Verträge geschlossen hat.
Den großen Zampano, der mit Zuckerbrot und Peitsche regiert und einsame Entscheidungen verkündet, braucht also kein Mensch?
Reinhard K. Sprenger: Kein Mensch – und schon gar kein Unternehmen! Sie müssen sich eine gute Führungskraft wie einen Gastgeber vorstellen. Er tut alles, damit die Menschen eine Situation vorfinden, in der sie sich wohlfühlen, mit ihren besten Talenten zur Geltung kommen, etwas Gemeinsames aufbauen können. Ein solcher Mensch ist ein Fremdoptimierer. Es geht ihm nicht primär um sich selbst, sondern darum, dass die Potenziale anderer Menschen zur Entfaltung kommen. Als Führungskraft muss ich permanent Konflikte managen und Entscheidungen treffen. Woran kann ich mich dabei orientieren? Auf jeden Fall nicht an irgendwelchen Wertebibeln! Unternehmen sind keine Kirchen, in ihnen geht es um Kunden und Märkte: Hier und nur hier liegen die Antworten auf die Fragen einer Führungskraft, nicht in abstrakt formulierten Prinzipien und Werten.
Wie hängt das mit einer weiteren Kernaufgabe von Führung zusammen, die Sie erläutern: »Zukunftsfähigkeit sichern«?
Reinhard K. Sprenger: Sehr eng! Ein Manager muss nicht nur permanent die Gegenwart, sondern auch die mögliche Zukunft, die Entwicklung seiner Märkte im Blick haben. Und das, was er dort sieht oder zumindest erahnt, ist die Grundlage seiner Entscheidungen. Und wenn Sie glauben, das sei doch ganz selbstverständlich, kann ich Ihnen nur sagen: Sie irren sich gewaltig!
Wieso das?
Reinhard K. Sprenger: Weil Ihnen die meisten Führungskräfte sagen: »Ich weiß, das ist das Wichtigste, aber ich habe dafür einfach keine Zeit.« Die Leute werden im Alltag geradezu erschlagen von Dringlichem – und das ist meist der Umgang mit aktuellen Zahlen. Aber wovon berichten die Zahlen? Von der Vergangenheit und, wenn die gut gelaufen ist, von ihren Erfolgsrezepten. Aber darüber, wie weit ich mit ihnen heute oder morgen noch kommen kann, verraten sie gar nichts. Und sie können zur Falle werden: Ich drehe mich im Gehen immer wieder um und betrachte den bisher zurückgelegten Weg – und laufe mit Karacho gegen den Pfosten vor mir. Dieser Pfosten ist der Markt der Zukunft und ein solcher Zusammenprall kann für Unternehmen tödlich enden.
Klingt dramatisch.
Reinhard K. Sprenger:Ist es auch – weshalb es ja so wichtig ist, dass Sie als Führungskraft auch im Sturm Ruhe und Überblick bewahren. Die »schwere See« ist heute eine Art Dauerzustand geworden: Die Märkte verändern sich immer rasanter, sind immer weniger berechenbar. Deshalb muss eine Führungskraft alle im Unternehmen auf Wachsamkeit trimmen und auf plötzliche Wendemanöver vorbereiten.
Und wie?
Reinhard K. Sprenger: Indem sie stört! Sie muss immer wieder den Status quo infrage stellen, die Mitarbeiter aufrütteln und vermitteln: »Seid wachsam, erwartet das Unerwartbare.« Um es deutlich zu sagen: Eine gute Führungskraft nervt. Aber sie wird dafür auch geschätzt, wenn nämlich klar wird: »Die Chefin macht das, weil sie uns alle voranbringen, unsere gemeinsame Zukunft sichern will.«
Und wie findet man solche Chefinnen und Chefs?
Reinhard K. Sprenger: Auch dafür gibt es keine einfachen Regeln. Aber eines ist sicher: Sachbearbeiter hinauf in Führungsetagen zu loben ist ein Holzweg. Firmen haben dann meist zwei Probleme: einen guten Sachbearbeiter weniger und eine schlechte Führungskraft mehr. Da helfen dann selbst meine Bücher nichts mehr! (lacht) Im Ernst: Führungskräfte müssen für Führungsaufgaben geeignet sein – alles andere ist irrelevant. Ich rate übrigens meinen Vorständen immer, bei der Personalauswahl möglichst individuell vorzugehen: »Sucht euch die Leute aus, die gut sind und zu euch passen. Das müssen nicht die individuell Besten sein – ihr braucht das beste Team!« Das kann auch mal zu massiver Diskriminierung führen. Bei einem meiner Kunden besteht der Vorstand mittlerweile fast komplett aus Frauen, mehr noch: aus Müttern, die 45 und älter sind. Der Umsatz des Unternehmens hat sich vervielfacht.
Sicher kein beliebig übertragbarer Ansatz …
Reinhard K. Sprenger: Klar. Eine solche Strategie funktioniert bestimmt nicht in jeder Firma. Das ist es ja, was die Praxis immer wieder lehrt: Erfolgsrezepte gibt es nicht.
Auch nicht in Ihrem Buch?
Reinhard K. Sprenger: Nein, dabei werden Sie mich nicht ertappen! (lacht) Aber trotzdem mache ich in diesem Buch etwas, das für mich eher ungewöhnlich ist: Ich sage Führungskräften konkret, wie sie etwas tun sollen. Ich beschreibe also nicht nur die Kernaufgaben von Führung, sondern gebe praktische Hinweise zu ihrer Ausführung. Wohlgemerkt: Keine Rezepte! Ich stelle meinen Lesern einen Überblick über die Zutaten erfolgreicher Führung zur Verfügung. Kochen müssen sie dann schon selbst.
Dr. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, gilt als profiliertester Management-Berater und Führungsexperte Deutschlands. Zu seinen Kunden zählen nahezu alle großen DAX-Unternehmen; er lebt in Zürich und Santa Fe, New Mexico. Sprenger ist bekannt als kritischer Denker, der nachdrücklich dazu auffordert, neues Denken und Handeln zu wagen.
2013 ist Reinhard K. Sprenger für sein Buch »Radikal führen« mit dem getAbstract Preis für die besten Wirtschaftsbücher des Jahres ausgezeichnet worden.
Weiterführende Links
Interview: Literaturtest Erstmals veröffentlicht in Performer - Führen geht heute anders