Digitalisierung ist überall – auch im Gesundheitswesen spielt sie eine große Rolle. Was genau verstehen Sie unter dem Begriff »digitale Pille«?
Annette Mönninghoff: Gute Frage! Der Begriff an sich ist fast schon widersprüchlich, denn wie kann etwas zugleich digital und auch analog sein? Wir verstehen unter der Begriffskombination nicht nur eine Tablette oder Therapie, die Bits und Bytes enthält, sondern jeglichen Einsatz von digitalen Technologien, der unser Gesundheitssystem verändert, den medizinischen Fortschritt beschleunigt oder neue Therapie- oder Vorsorgemöglichkeiten schafft.
Verändert die Digitalisierung nur die Prozesse in der Medizin (Telemedizin etc.) oder auch die Medizin an sich?
Annette Mönninghoff:Digitalisierung istkein reines Prozessthema. Digitalisierung verändert die Medizin als Ganzes und damit auch das Rollenverhältnis der verschiedenen Akteure im Gesundheitssystem. Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis von Ärzten und Patienten. Lange war es unmöglich sich selbst ohne medizinische Bildung ein Bild über die eigene Gesundheit zu machen. Ärzte hatten die Wissenshoheit.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass sich in Deutschland bereits heute 58 Prozent der Patienten vor dem Arztbesuch im Internet informieren und 62 Prozent nach der Sprechstunde die Diagnose des Arztes googeln. Sie überprüfen die Aussagen des Arztes, recherchieren zu alternativen Behandlungsmethoden und suchen den Austausch mit anderen Patienten sowie emotionale Unterstützung. Dies verändert die Dynamik zwischen Ärzten und Patienten und bringt viele Chancen. Studien zeigen nämlich, dass sich Gesundheitswissen von Patienten positiv auf deren Gesundheit auswirkt. Je mehr man über seine eigene Gesundheit weiß, desto besser kann man dazu beitragen, diese positiv zu beeinflussen. Patienten werden in der neuen digitalisierten Medizin von morgen also auch mehr in die Pflicht genommen, denn sie selbst können oft mehr zu ihrer Gesundheit beitragen als es Medikamente oder Ärzte können.
Im Buch geht es vor allem um chronische Erkrankungen, die mithilfe digitaler Versorgungsmodelle gut und vor allem präventiv betreut werden können. Was heißt das für eine alternde Gesellschaft, in der chronische Krankheiten eine zentrale Rolle spielen?
Annette Mönninghoff: Digitalisierung ist ein zentrales Schlüsselwerkzeug, um unser Gesundheitssystem umzubauen und der Vorsorge mehr Gewicht zu verleihen. Vorsorge, da sind sich alle einig, ist die beste Medizin. Besonders wichtig sind die Prävention und diagnostische Überwachung im Bereich der chronischen Krankheiten. Unser heutiges Gesundheitssystem fokussiert sich fast ausschließlich auf die Behandlung von Krankheiten, nur 3% aller Gesundheitsausgaben werden in die Prävention investiert. Dabei zeigen wissenschaftliche Studien, dass das Risiko für Diabetes, kardiovaskuläre Krankheiten und selbst Krebs rund zur Hälfte durch einen gesunden Lebensstil vermindert oder verzögert werden kann. Diese Krankheiten verursachen wiederum 80% aller Gesundheitskosten. Prävention würde sich also nicht nur positiv auf die Gesundheit von Millionen Menschen auszahlen, es würde auch das Kostenproblem in unseren Gesundheitsproblemen zu einem großen Teil lösen.
Die digitale Gesundheitswelt gibt Ärzten wertvolle Zeit zurück, die sie für eine präventive Medizin benötigen. Digitale Coaches entlasten Ärzte künftig, indem sie zum Beispiel im Management von chronischen Krankheiten eine führende Rolle einnehmen. Zudem helfen digitale Tracker, Vitalwerte von Patienten kontinuierlich aufzuzeichnen. Durch eine diagnostische Überwachung wird es überhaupt erst möglich, präventiv und faktenbasiert mit Patienten über ihre Gesundheit zu sprechen.
Die Akteure im Gesundheitswesen sind eine sehr heterogene Gruppe: Ärzte, Versicherer, Unternehmer für digitale Versorgungslösungen … Was sind die größten Hürden bei der Digitalisierung, die es noch zu überwinden gilt.
Annette Mönninghoff: Die Medizin wird sich nicht von heute auf morgen digitalisieren, gleichzeitig ist der Prozess schon längst im Gange. Hürden gibt es wie in jedem Veränderungsprozess viele – aber keine, die unüberwindbar sind. Die Corona-Krise wirkt wie ein Katalysator für die Digitalisierung der Medizin. Hürden, die zuvor als unüberwindbar empfunden wurden, waren plötzlich innerhalb von wenigen Wochen durchbrochen. Beispiele hierfür sind die Möglichkeit, sich per Video mit einem Arzt zu verbinden oder die Corona-Warn-App, die von Millionen Menschen freiwillig genutzt wird, um über Gesundheitsrisiken zu informieren, während hoher Standards des Datenschutzes erfüllt werden.
Datenschutz ist sicherlich ein sehr wichtiges Thema und kommt insbesondere in Deutschland immer auf, wenn man über die Digitalisierung der Medizin spricht. Ich würde Datensicherheit aber nicht als Hürde bezeichnen. Datenschutz und Datensicherheit sind immer dann essentiell, wenn Informationen im digitalen Raum gespeichert werden. Dies betrifft nicht nur die Medizin, sondern auch Firmen und Ministerien, die ihre Daten digital speichern oder Informationstechnologie nutzen. Die Antwort auf die Hürde Datenschutz kann allerdings nicht sein, zu analogen Prozessen zurück zu kehren. Wie auch in anderen Bereichen bringt Digitalisierung der Medizin viele Chancen – es gilt dies zu nutzen und gemeinsam an sicheren Lösungen zu arbeiten.
Für wen ist Ihr Buch besonders interessant?
Annette Mönninghoff: Viele verschiedene Perspektiven und Gespräche mit Ärzten, Start-ups und Patientenorganisationen haben uns beim Schreiben des Buches geprägt. Als Autorenteam sind wir sehr divers und bringen Erfahrungen aus der Informatik, der Psychologie, der Betriebswirtschaftslehre und der Pharmaindustrie mit.
Wir glauben daher, dass wir daher ein sehr breites Publikum mit unserem Buch ansprechen können. Die vielen konkreten Beispiele im Buch und die persönlichen Geschichten von Patienten oder Unternehmen machen das Buch für den interessierten Laien verständlich. Man muss kein Medizinstudium hinter sich haben oder programmieren können – die »Digitale Pille« ist eine spannende und unterhaltsame Lektüre für alle, die sich für Gesundheit interessieren.
Annette Mönninghoff ist Projektleiterin und Doktorandin am Institut für Customer Insight an der Universität St. Gallen. Ihr Forschungsgebiet ist die Schnittstelle zwischen Konsumentenverhalten und Digitaler Medizin. Insbesondere widmet sie sich der Frage, wie digitale Technologien Konsumenten zu einem gesünderen Lebensstil motivieren können.
Sie ist eine von vier Co-Autor*innen des Buches »Die digitale Pille« neben Elgar Fleisch, Christoph Franz, Andreas Herrmann.