Europa steckt in der Krise, was ist deren Kern?
Jan Zielonka: Viele Jahre lang glaubten die meisten Europäer an liberale Grundprinzipien: Rechtsstaatlichkeit, Freihandel, Menschenrechte, demokratische Kontrolle und europäische Integration. Folglich konnten die liberalen Parteien – ob nun Mitte-links oder Mitte-rechts – in all den Jahren an der Macht bleiben. Gegenwärtig werden diese liberalen Prinzipien in Frage gestellt, und liberale Politiker kämpfen um ihr politisches Leben. Das schafft Unsicherheit und Chaos. Darin liegt der Grund für die aktuelle Krise.
Gut zwanzig Jahre nachdem Ralf Dahrendorf eine Revolution in Europa begrüßt hat, schreiben Sie ein Buch mit dem Titel »Konterrevolution«. Was verstehen Sie darunter?
Jan Zielonka: Ralf Dahrendorf versuchte, die liberale Revolution zu verstehen, die nach dem Fall der Berliner Mauer in Osteuropa in Gang kam. Der Liberalismus schien sich durchgesetzt zu haben: von London, Berlin und Athen bis nach Bukarest, Warschau und Tallinn. Jetzt beobachten wir eine gegenteilige Entwicklung: Der Liberalismus wird auf dem gesamten Kontinent in Frage gestellt. Ich bezeichne diese Entwicklung als antiliberale Konterrevolution.
Aus Ihrer Sicht sind nicht allein rechte Bewegungen für die Konterrevolution verantwortlich, sondern auch die liberalen Eliten. Haben sie unsere Demokratie verraten?
Jan Zielonka: Rechtspopulisten sind an vielem Schuld, aber bis vor Kurzem waren sie in keinem europäischen Land an der Regierung. Ebenso wenig kann man ihnen die Ungleichheiten, Steueroasen und das Versagen der Regierungsführung in den letzten drei Jahrzehnten vorwerfen. Heute gedeiht der Populismus, weil Liberale eine falsche Wirtschafts-, Migrations- und Außenpolitik betrieben und das Vertrauen der Bürger verloren haben, die sie viele Jahrzehnte lang gewählt haben. Für das aktuelle Chaos in der EU kann man nicht die Populisten verantwortlich machen. Schließlich wird die EU von liberalen Politikern wie Macron und Merkel geführt, mit ein wenig Hilfe von Juncker, Tusk und Tajani.
Was muss geschehen, damit die Europäische Union aus der gegenwärtigen Krise herausfindet?
Jan Zielonka: Europa und sein liberales Projekt müssen neu erfunden und gestaltet werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die gegenwärtige Situation durchaus zu einer Renaissance führen könnte. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, was schief gelaufen ist. Und wir brauchen viel Phantasie und Mut zum Experimentieren.
Zum Autor
Jan Zielonka, 1955 in Polen geboren, ist Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Oxford University. Er schreibt unter anderem für Die Zeit.
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