Hand aufs Herz, es gibt jede Menge Bücher über Glück. Warum war es Ihnen wichtig, ein weiteres zu schreiben? Und was ist das Besondere an Ihrem Buch?
Christophe André: Ja, es gibt viele Bücher zum Thema Glück, das ist kein neues Phänomen. Im 18. Jahrhundert waren Abhandlungen über das Glück in ganz Europa sehr verbreitet. Es ist ein ewiges Thema, ganz besonders in Zeiten von Krisen und Umwälzungen, wie wir sie heute erleben. Mein Buch ist das Buch eines Therapeuten, der daran gewöhnt ist, mit Menschen zu arbeiten, welche Schwierigkeiten haben, das Glück zu fühlen, es anzunehmen und bei anderen zu wecken. Es geht im Buch um einen aufgeklärten Umgang mit dem Glück, um das Bewusstsein, dass das Leben auch widrige Umstände beinhaltet und wir gerade deswegen das Glück brauchen: Es ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.
In Ihrem Buch erfahren wir die wissenschaftliche Umschreibung von Glück: „subjektives Wohlbefinden“. Wie ist das denn zu verstehen?
Christophe André: Die Wissenschaftler sind mit dem Begriff »Glück« nicht zufrieden, weil dieser zum Wortschatz der Alltagsphilosophie gehört. Aus diesem Grund reden sie oft untereinander vom »subjektiven Wohlbefinden«, aber es geht grundsätzlich um das Gleiche!
Und wie definieren Sie (als Privatmensch) Glück?
Christophe André: Für mich ist es das Gefühl, nichts mehr zu brauchen, der Moment, an dem wir verstehen, dass das Leben uns alles gibt, was wir von ihm erwarten können.
Was hat Sie zuletzt glücklich gemacht?
Christophe André: Auch wenn es seltsam klingen mag: meinen Schwiegervater, den ich sehr mag, beim Sterben zu begleiten. Im Moment befindet er sich wegen einer unheilbaren Krebserkrankung in einer Palliativpflegestation eines Krankenhauses. Er ist mein Mentor in Sachen Glück. Ich erzähle viele Anekdoten über ihn in meinem Buch, welche man als Glückslektionen betrachten kann. Obwohl ich sehr traurig bin, ihm beim Sterben zuzusehen, stelle ich fest, dass er sterben wird, wie er gelebt hat: mit viel Lebensintelligenz. Er freut sich über alle schönen Momente, welche das Leben ihm schenkt, auch wenn es die letzten sind.
Sie bezeichnen »… und vergiss nicht, glücklich zu sein« als Ihr persönlichstes Buch. Was macht es dazu? Wieso?
Christophe André: Ja, das ist mein persönlichstes Buch. Ich äußere darin meine Meinung, meine Bemühungen, meine Schwierigkeiten beim Thema Glück. Ich erzähle Anekdoten aus meinem Leben, welche mir die Augen geöffnet und mir geholfen haben, mich weiterzuentwickeln; Lektionen, die ich gelernt habe, indem ich die Menschen aufmerksam beobachtet habe, die ich kennengelernt, therapiert, beim Leben beobachtet habe. Ich konnte diesen Menschen dabei zusehen, wie sie sich glücklich oder unglücklich gemacht haben.
Ich bin ein normaler Mensch, kein Hochbegabter des Glücks. Wenn ich über mich rede, möchte ich mich nicht als Erfolgsmodell darstellen, aber als – am Anfang nicht sehr begabter – Handwerker seines eigenen Glücks.
In Ihrem Vorwort schildern Sie Situationen aus ihrer Familiengeschichte und Ihrer eigenen Kindheit und Jugend, die viele andere zum Jammern gebracht hätten. Sie jedoch tun das Gegenteil. Worauf kommt es Ihnen an?
Christophe André: Ich habe keine großen Traumata oder Dramen erlebt, sondern Schwierigkeiten gehabt, die viele Menschen ebenfalls kennen. Ehrlich gesagt hat mir mein Beruf dabei geholfen, auch an mir selbst zu arbeiten. Wenn ich Ingenieur oder Chemiker geworden wäre, hätte ich mich nicht in dieser Weise selbst therapieren können und würde mich heute nicht so gut fühlen. Es kommt hinzu, dass ich es immer geliebt habe, Menschen meiner Umgebung als Vorbilder zu betrachten. Auch wenn sie nicht perfekt waren, besaßen die Menschen, die ich kennengelernt habe, immer etwas, wovon ich mich inspirieren lassen konnte. Andernfalls betrachtete ich sie als Antimodelle und sagte mir: Mach es auf keinen Fall so wie sie! Ich hatte also viele Inspirationsquellen in meiner Umgebung. Und schließlich haben mich meine drei Kinder enorm dazu motiviert, mein Bestes zu tun, um ihnen die Lust am Leben zu vermitteln. Deswegen nimmt meine Familie auch einen großen Raum ein in dem Buch.
Deutschland ist für Sie mit Erinnerungen an glückliche Momente verbunden. Welche waren ganz besonders? Und wodurch?
Christophe André: Die Franzosen sind Deutschland gegenüber oft neidisch oder besorgt. Aus den im Buch erwähnten Gründen hatte ich diese Schwierigkeiten nicht. Deutschland erinnert mich an mehrere Sprachreisen während meiner Jugend, bei denen ich in sehr sympathischen Familien gewohnt habe. Ich erinnere mich auch sehr gern an faszinierende Urlaube in Berlin, als ich Student und die Stadt noch geteilt war. Ich mag die Sprache und die Kultur sehr. Ich bin also sehr germanophil (außer beim Fußball!).
Was ist für Sie das Schöne / das Erfüllende an Ihrem Beruf?
Christophe André: Ich habe zwei Berufe, die ich sehr liebe: Arzt und Schriftsteller. Was mich in beiden Fällen erfüllt, ist dieses Gefühl, nützlich zu sein. Als Arzt freue ich mich riesig, wenn ich meinen Patienten helfen und sie manchmal heilen kann. Mich machen auch die Leserbriefe sehr glücklich, in denen mir mitgeteilt wird, dass eins meiner Bücher jemandem helfen konnte. Ich habe großes Glück, dass meine beiden Berufe Hilfs- und Pflegeberufe sind.
Ihre Berufsauffassung / Ihr Selbstverständnis als Psychiater hat sich im Lauf der Jahre stark gewandelt. Was hat Veränderungen ausgelöst? Was hat sich getan? Worin bestehen die entscheidenden Veränderungen?
Christophe André: Ich übe diesen Beruf nun seit mehr als 35 Jahren aus und mit zunehmendem Alter interessiere ich mich immer mehr für die Prävention und die Frage: Wie kann man anfälligen Menschen helfen, unter psychischen Schmerzen nicht (wieder) zu leiden?
Daher kommt mein Interesse für die großen Quellen der inneren Ausgeglichenheit, welche die Themen meiner Bücher sind (diese Themen entsprechen den in unserer Pflegestation durchgeführten Studien): u.a. Selbstwertschätzung, emotionale Ausgeglichenheit, Positive Psychologie.
Was ist für Sie das Bemerkenswerte / das Überzeugende an der Positiven Psychologie? Wie lässt sich die Quintessenz auf den Punkt bringen? Was wird erforscht? Wozu verhilft die Positive Psychologie?
Christophe André: Die Positive Psychologie ersetzt keineswegs diejenige, die es schon vorher gab, nämlich eine Psychologie, die in der Pflege und Therapie zur Anwendung kommt. Sie ist aber eine Ergänzung, indem sie sich für die Lebensqualität und für unsere inneren Ressourcen interessiert, dank derer wir uns besser fühlen können. Sie basiert auf zwei Forschungsfeldern: dem Feld des äußeren Glücks (ein so angenehmes Leben wie möglich führen) und dem Feld der inneren Sinnsuche (ein Leben, das uns psychisch und spirituell bereichert). Sie legt ebenfalls viel Wert auf die Öffnung anderen gegenüber, denn selbst glücklich sein und jemanden glücklich machen sind gleich wichtig!
Für Ihr Buch haben Sie eine Struktur gewählt, die auf den ersten Blick an ein Lexikon erinnert. Dann entpuppt sich das Ganze aber doch als spielerisch. Welches Konzept hatten Sie? Was spricht dafür? Und was hat Ihnen beim Schreiben Freude gemacht?
Christophe André: Es ist nicht nur ein Wörterbuch (eine Reihenfolge von Definitionen) sondern ein ABC-Buch, ähnlich denen, die es früher in der Schule gab, um den Kindern das Lesen beizubringen. Die Idee ist also eher eine Methode, um zu lernen, sich selbst glücklicher zu machen. Es gibt übrigens im Buch nicht nur Definitionen, sondern auch Ratschläge, kleine Geschichten, Anekdoten, Übungen, Leitsprüche, die man sich einprägen kann. Es ist eine Art Rumpelkammer, in der man alles durchwühlen und finden kann, was man braucht ...
Welches Vorgehen empfehlen Sie beim Lesen? Wie bei einem Buffet auswählen, wonach einem der Sinn steht? Oder doch alphabetisch durcharbeiten?
Christophe André: Jeder kann sich mit dem Buch auseinandersetzen, wie er sich mit seinem Leben auseinandersetzt: auf mehr oder weniger organisierte Weise! Manche meiner Leser lesen es von Anfang bis Ende wie ein normales Buch. Andere spazieren zufällig durch die Seiten. Weitere lesen einen Eintrag (oder mehr) jeden Abend vor dem Schlafengehen. Diese letzte Methode würde ich persönlich benutzen...
Von welchen Irrtümern über Glück sollten wir uns lieber verabschieden?
Christophe André: 1) Dass man das Glück nicht wirklich lernen kann, dass es vielmehr auf unserer Vergangenheit beruht oder hin und wieder »vom Himmel fällt«. Wir werden von unserer Vergangenheit beeinflusst, können uns aber teilweise davon lösen. Und zufällige Glücksmomente helfen uns zwar im Leben, aber wir können sie auch selbst hervorrufen. Oder das Leben einfach genießen, auch wenn es oft schwierig oder monoton ist.
2) Dass das Glück »alles oder nichts« ist, das heißt, dass man immer entweder glücklich oder unglücklich ist. In Wirklichkeit gibt es viele kleine Glückssituationen an grauen Tagen, viele Momente, an denen wir nur ein bisschen, aber nicht vollkommen glücklich sind. Es sind trotzdem Glücksmomente, auch wenn sie unvollständig, unvollkommen, zerbrechlich, instabil sind.
Sich glücklich zu fühlen, kann man erlernen und trainieren, Ihrer Überzeugung nach. Zu welchen ersten Schritten raten Sie? Was bewirkt motivierende Erfolgserlebnisse?
Christophe André: Es handelt sich um eine Gesamtheit von kleineren Bemühungen. Jede einzelne Bemühung allein kann lächerlich wirken, aber wenn alle diese Bemühungen zusammengefügt werden, sind sie wie die Stränge eines Seils: Einzeln sind sie schwach, aber zusammen sind sie mächtig. Es wurde bewiesen, dass man die Architektur unseres Gehirns nach und nach verändern kann (die sogenannte Neuroplastizität), indem man diese Bemühungen wiederholt, und dass das Auftreten und die Dauer von angenehmen Gefühlen und Gedanken davon beeinflusst werden.
Ein Regentag in Paris. Sie sind mit dem Motorroller unterwegs, spät dran und zu allem Übel: Stau. Wie retten Sie den Tag?
Christophe André: Indem ich mir bewusst mache, dass es auch Gutes an diesem Tag gibt. Wenn ich merke, dass ich innerlich anfange zu schimpfen, denke ich daran, dass ich am Leben bin, dass ich in einer Demokratie lebe, dass ich heute Abend in meiner warmen Wohnung entspannen werde. Und dass dieser Tag, wie alle anderen Tage, mir gute Momente bereitet, obwohl ich verspätet bin, im Regen und in der Kälte herumlaufen muss; ich kenne sie nur noch nicht …
Wozu möchten Sie Ihre Leser ermutigen und bewegen / einladen?
Wenn selbst ein solcher Faulpelz und Minderbegabter des Glücks wie ich es geschafft hat, sich glücklicher zu machen, dann sollte es jeder schaffen! Und ich empfehle, immer an mein Lieblingsmantra zu denken: »Tu Dein Bestes. Und vergiss nicht, glücklich zu sein. Und auch andere Menschen glücklich zu machen.«
Zum Autor:
Dr. Christophe André ist Psychiater und Psychotherapeut am Hôpital Sainte-Anne in Paris und gilt als einer der renommiertesten Psychologen Frankreichs. Er hat zahlreiche populäre psychologische Sachbücher geschrieben, von denen einige auch in Deutschland zu Bestsellern wurden
»Mit freundlicher Genehmigung von Büchermenschen«