Nach einem Jahrzehnt ungewöhnlicher Preisstabilität erleben wir die höchsten Preissteigerungsraten seit den 1970er Jahren. Vieles spricht dafür, dass die Inflation uns über eine lange Zeit begleiten wird. Schätzen Sie das auch so ein?
Hermann Simon: Definitiv! Es gibt zwei Kategorien von Inflationsursachen. Zum einen Knappheiten, die durch Corona, Supply-Chain-Störungen, Ukraine-Krieg etc. entstehen. Zum zweiten die aufgeblähte Geldmenge. Die erste Kategorie wird über kurz oder lang verschwinden. Jedoch wird es viele Jahre dauern, die überdimensionierte Geldmenge abzubauen. Deshalb erwarte ich eine anhaltende Inflation, zumindest für fünf bis zehn Jahre.
Die Situation stellt Unternehmen und die Verantwortlichen im Management vor Herausforderungen, mit denen sie nicht vertraut sind. Liegt das daran, dass man sich in Unternehmen selten auf Szenarien vorbereitet, die unwahrscheinlich sind?
Hermann Simon: Die letzte Inflationswelle ähnlicher Größenordnung liegt mehr als vierzig Jahre zurück. Nach Jahrzehnten relativer Preisstabilität stellt sich kein Manager vor, dass plötzlich eine derart massive Inflationswelle auftritt. Folglich bereitet man sich auch nicht vor. Das ist ähnlich wie bei der Flutkatastrophe an der Ahr im Jahre 2021. Auch für dieses seltene, aber keineswegs unmögliche Ereignis gab es keine effektive Vorbereitung. Und noch ein Charakteristikum ist wichtig: Die Inflation kam nicht nur unerwartet, sie kam auch sehr schnell. Übrigens genauso wie in den 1970er Jahren.
Die aktuelle Manager:innen-Generation hat im Grunde keine Erfahrung mit dem Thema und vermutlich kann sie auch eher selten auf Mentor:innen im Unternehmen zurückgreifen. Müssen wir den unternehmerischen Umgang mit Inflation neu lernen?
Hermann Simon: Wer 1975 im Vorstand und damals 50 Jahre alt war, der wäre heute 97. Es dürfte also nur noch sehr wenige geben, die diesbezüglich mit Rat zur Seite stehen können. In der Tat müssen alle im Unternehmen lernen, was man gegen die Inflation tun kann. Eine wichtige Einsicht, die mir beim Schreiben des Buches »Die Inflation schlagen« gekommen ist, besteht darin, dass alle betrieblichen Funktionen betroffen sind, beim Chef angefangen. Inflation betrifft keineswegs nur das Preismanagement, sondern genauso Einkauf, Finanzen, Produktion und Personal, ja selbst die Buchhaltung.
Sie sagen, dass es ein gravierender Fehler sein kann, Kostensteigerungen an die nächste Wertschöpfungsstufe oder die Verbraucher:innen weiterzugeben. Warum?
Hermann Simon: Die Erklärung ist ganz einfach. Wenn man Kostensteigerungen einfach überwälzt, vernachlässigt man die Preisbereitschaft der Kunden – das kann bekanntlich böse ausgehen. Überzieht man nämlich mit den Preiserhöhungen, so lässt sich ein massiver Absatz- und Umsatzeinbruch nicht ausschließen. Zudem sind selbst in der Inflation die Wettbewerber im Auge zu behalten. Haben diese vielleicht Kostenvorteile, zum Beispiel wegen langfristiger Lieferverträge, und nutzen die Chance, uns Marktanteile abzujagen?
Was sollte man stattdessen tun?
Hermann Simon: Zum einen geht es darum, die Agilität zu erhöhen. Inflation bedeutet, dass sich Kosten und Preise ständig ändern. Man muss die neuesten Informationen schnell in das Entscheidungssystem einspeisen, etwa indem man mit Wiederbeschaffungs- statt mit historischen Kosten kalkuliert. Dann sollte man sich unbedingt Gedanken über die Veränderung der Preisbereitschaften machen. Bei Simon-Kucher haben wir festgestellt, dass die Preisempfindlichkeit der Verbraucher bei Lebensmitteln dreimal so hoch ist wie beim Urlaub. Bei Lebensmitteln muss man mit Preiserhöhungen also sehr viel vorsichtiger sein als im Tourismus. Schließlich geht es darum, das Verhalten der Wettbewerber zu antizipieren. Ziehen sie mit? Tun sie das gleichzeitig oder nur mit Verzögerung? Oder greifen sie sogar an, wie das Edeka mit einer Kampagne »Preise runter!« im Mai 2022 getan hat?
Gab es einen Schlüsselmoment, in dem Sie wussten: Ich muss ein Buch zum Thema Inflation schreiben?
Hermann Simon: Auslöser war die Anfrage des Verlages, die etwa gleichzeitig mit Berichten der Projektleiter bei Simon-Kucher kam. Diese Berichte machten mir bewusst, dass uns die Inflation urplötzlich vor völlig neue Herausforderungen stellt. So sagte der Top-Manager eines Chemieunternehmens: »Wir müssen unser Geschäftsmodell ändern, und zwar sofort.« Oder der Aufsichtsratsvorsitzende einer der zehn größten Firmen Deutschlands forderte: »Wir müssen unsere Agilität radikal erhöhen, um vor die Kostenwelle zu kommen.« Das waren Weckrufe für mich.
Herzlichen Dank für das Gespräch!