Es ist Weihnachten, das Fest der Liebe. Die Zeit der Besinnung und der Ruhe. Doch wie jedes Jahr rappelt es gehörig unterm Weihnachtsbaum. Die Familie kommt zusammen, der Streit ist programmiert. Schöne Bescherung!
Gerade, wenn es besonders harmonisch sein soll, kommt es oft zum Streit. Nur warum? Daniel Shapiro ermöglicht uns in seinem Buch »Verhandeln« einen Blick in den Kern der Konflikte. Und er zeigt uns, wie wir selbst aus der verfahrensten Situation wieder herausfinden können. Ein exklusiver Auszug aus dem neuen Harvard-Erfolgskonzept:
(…) Versuchen Sie, die tieferen Motive zu verstehen, die die Beteiligten in einem Streit antreiben. Fragen Sie zunächst, ob ein aufgeladenes Thema nicht ein Stellvertreterkrieg sein konnte, und ob es in der Auseinandersetzung nicht in Wirklichkeit um Identität geht. (…)
Als ich vor einigen Jahren ein junges Paar beriet, ging es mir darum, die eigentlichen Motive ihres Streits zu verstehen. Die Ehe von Linda und Josh schien vor dem Aus zu stehen. Die beiden hatten sich an der Universität kennen gelernt und nach drei Jahren Beziehung geheiratet. Die Ehe war glücklich, bis ihre beiden Zwillingstochter vier Jahre alt waren und damit alt genug, um den Nikolaus kennen zu lernen. Das Problem war, dass Linda Protestantin war und Josh Jude. Als Weihnachten naher rückte, standen sie vor der Frage, wie sie das Fest so begehen konnten, dass es beiden entsprach.
Je mehr sich Linda einen Weihnachtsbaum wünschte, umso hartnackiger wehrte sich Josh. Die beiden diskutierten endlos, lasen Verhandlungsratgeber auf der Suche nach einer Win-win-Lösung und baten Freunde um Rat. Aber schon bald hatte sich ein solcher Groll aufgebaut, dass ein Kompromiss unmöglich schien, zumal ihre Tochter betroffen war.
Ich hatte den Eindruck, dass der Kampf um den Weihnachtsbaum nur ein Stellvertreterkrieg für viel grundlegendere Fragen der Identität war, die das Paar beantworten musste. Also fragte ich sie: »Welche Aspekte Ihrer Identität stehen in diesem Streit auf dem Spiel?« Ich wollte herausfinden, welche der fünf Säulen der Identität für jeden am meisten bedroht schien: Überzeugungen, Rituale, Bindungen, Werte oder emotional bedeutsame Erfahrungen.
Linda berichtete mir, als sie zehn Jahre alt war, sei ihre Mutter gestorben und ihr Vater habe sie allein großgezogen. Linda fühlte sich ihm sehr verbunden und erinnerte sich daran, wie sie am Weihnachtsmorgen aufwachte und einen großen Stapel Geschenke fand. Der Weihnachtsbaum war zum Ersatzobjekt für Lindas enge Beziehung zu ihrem Vater geworden, der sie emotional verwohnt hatte – auf den Baum zu verzichten, kam ihr vor wie ein Verrat an ihrem Vater. Für Josh dagegen weckte der Winter ein Gefühl der besonderen Bindung zu seinen Eltern und Großeltern und den Wunsch, jüdische Rituale und Werte zu leben. Er malte sich aus, wie enttäuscht sie waren, wenn sie wussten, dass er einen Weihnachtsbaum im Haus aufstellte und dass seine Töchterchen auf Santa Claus warteten. Für ihn war der Baum ein Verrat an seinem kulturellen Erbe und eine Entweihung seiner familiären Wurzeln. In der Diskussion verstanden Linda und Josh zwar besser, warum der andere so stur war, und sie festigten ihre Beziehung, doch die Frage nach dem Weihnachtsbaum beantworteten sie nicht.
Stellen Sie sich Szenarien für eine harmonische Koexistenz vor
Das TAS-System bietet Ihnen drei Ansätze der Koexistenz: Trennung, Assimilation und Synthese. Es gibt keine Patentlosung, doch die folgenden drei Fragen helfen Ihnen immerhin, eine breite Palette von möglichen Szenarien zur Beilegung Ihres Konflikts zu entwickeln.
Was wäre, wenn Sie Ihre Identitäten trennen?
In einer Ehekrise könnten Sie eine Trennung auf Zeit oder eine Scheidung für sinnvoll halten. Wenn Ihr Nachbar Ihre Grundstücksgrenzen nicht respektiert, könnte ein Zaun die Lösung sein. Um einen Krieg zu beenden, ist der erste Schritt ein Rückzug der Truppen. Und was mache ich, wenn sich meine beiden älteren Söhne streiten? Ich trenne sie. Aber räumliche Trennung ist nicht die einzige Lösung. Auch eine psychische Trennung ist möglich, etwa wenn Sie bestimmte Themen aus Ihrer Beziehung ausklammern. Als Jugendlicher wurde ich regelmäßig von meiner Mutter mit Fragen nach den Mädchen bombardiert, mit denen ich zusammen war. Ich antwortete: »Das ist tabu!« Und damit blieben diese Themen in unserer Beziehung außen vor. Selbst Staaten nutzen diese Taktik manchmal und klammern strittige Fragen aus, um gute Beziehungen zu erhalten und den Einsatz von Militär zu verhindern.
Was wäre, wenn Sie sich an die anderen assimilieren oder umgekehrt?
Assimilation bedeutet, einen Teil der Identität der anderen in die eigene aufzunehmen. Trennung lässt unsere Identität intakt, Assimilation erweitert sie. Ein Beispiel ist ein guter Freund, der aus Russland in die Vereinigten Staaten einwanderte und sich schnell in der pragmatischen, schnellen Kultur einlebte, aber gleichzeitig seine Identität bewahrte, indem er zu Hause Russisch sprach und regelmäßig seinen Borschtsch kochte. Assimilation kann auch die Form von Anpassung oder Bekehrung annehmen. Anpassung bedeutet, das Spiel nach den Regeln des anderen zu spielen, ohne diese Regeln zu verinnerlichen. Als Präsident Obama Japan besuchte, verbeugte er sich vor Kaiser Akihito, das heißt, er passte sich dem japanischen Ritual an, doch er nahm es nicht in seine Identität auf und verbeugte sich nicht in ähnlicher Weise vor anderen Staatenlenkern. Bekehrung bedeutet dagegen, Aspekte der Kernidentität des anderen zu verinnerlichen, etwa wenn Missionare Menschen überzeugen, eine neue Religion anzunehmen. Da Bekehrung freiwillig ist, bleibt die Kernidentität unangetastet.
Was wäre, wenn Sie eine Synthese aus den Identitäten herstellen?
Die dritte Möglichkeit, eine Beziehung zu verändern, ist die Synthese: Sie definieren Ihre Beziehung zur anderen Seite auf eine Weise neu, dass Ihre Kernidentitäten nebeneinander existieren. Sie sind getrennt und doch verbunden, Sie sind autonom und gehören doch zusammen. Ein Beispiel ist die Vielzahl von ethnischen Gruppierungen in den Vereinigten Staaten, von denen jede ihre eigene kulturelle Vergangenheit mitbringt und sich trotzdem als »Amerikaner« bezeichnet.
In Südkorea bin ich einem kreativen Beispiel für die Synthese begegnet. Nach einem Workshop in Seoul brachte mich meine Gastgeberin ins Stadtzentrum. Dort zeigte sie mir das alte Rathaus, ein strenges Gebäude, das in der Zeit der japanischen Besatzung errichtet worden war. Nach der Befreiung war die Stadtverwaltung zunächst in diesem Gebäude geblieben, doch 2005 ließ der Bürgermeister Lee Myung-bak ein neues errichten. Was sollte nun mit dem alten geschehen?
Die Bürger von Seoul waren sich uneins. Die einen plädierten für einen Abriss – warum sollte man dieses Überbleibsel aus der schmerzhaften Vergangenheit erhalten, wenn ein neues Gebäude die Modernisierung des Landes zum Ausdruck bringen konnte? Andere sprachen sich gegen den Abriss aus, weil sie meinten, dass jeder Aspekt der koreanischen Geschichte seine Berechtigung habe. Für beide Seiten war das Rathaus ein Ersatzobjekt in einer Auseinandersetzung um die südkoreanische Identität.
Als mich meine neue Bekannte an dem Gebäude vorbeiführte, sah ich, dass die Stadtverwaltung das mit Identität aufgeladene Dilemma durch Synthese gelöst hatte. Im alten Gebäude hatten sie eine Stadtbibliothek untergebracht, und dahinter hatten sie das neue Rathaus errichtet – ein modernes Gebäude aus Glas und Stahl, das aussah wie eine Welle, die im Begriff war, über das alte Gebäude hinwegzuschwappen. Die beiden Gebäude waren wie eine Gegenüberstellung der dunklen Vergangenheit und der hoffnungsvollen Zukunft und erzählten eine Geschichte über die vielseitige Identität Südkoreas.
Zurück zum Weihnachtsbaum
Linda und Josh waren in einer Sackgasse: Sie hatten keine Ahnung, wie sie ihr Weihnachtsbaum-Dilemma lösen sollten. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, mögliche Szenarien für eine harmonische Koexistenz auszuloten, stellte ich ihnen das TAS-System vor. Obwohl beide ihre festen religiösen Überzeugungen hatten, waren sie bereit, nach Wegen zu suchen, die diese Kluft überbrücken konnten. Ich bat sie, in einem Brainstorming verschiedene Optionen zusammenzutragen und dabei auch scheinbar weit hergeholte Ideen zuzulassen, in der Hoffnung, dass sie mit kreativem Denken eine Lösung fanden, die beide Seiten als richtig empfanden. Dabei sollten sie zunächst keines der Szenarien beurteilen – das sollte erst später kommen.
Die beiden begannen mit Trennungsszenarien. Sie konnten so tun, als gäbe es den Konflikt nicht, sie konnten diese unüberbrückbaren Unterschiede den Großteil des Jahres aus ihrer Beziehung ausklammern und sich erst dann damit beschäftigen, wenn Weihnachten vor der Tür stand.
Eine andere Alternative war, dass sich eine Seite der anderen beugte, aber Groll hegte. Oder sie konnten einen ungewöhnlichen Schritt unternehmen und ihr Haus zweiteilen: »In einem Teil feiern wir Weihnachten, im anderen Chanukka.« Als allerletzte Möglichkeit blieb natürlich noch die Scheidung.
Dann entwickelten sie Assimilationsszenarien. Josh konnte zu Lindas Glauben übertreten und Christ werden. Oder er konnte den Weihnachtsbaum akzeptieren und sich entweder als Verräter an seiner Kultur fühlen oder sich überlegen, wie er den Baum mit seinen Überzeugungen vereinbaren konnte. Umgekehrt konnte Linda zustimmen, sich an die Rituale des Judentums anzupassen, ihrem Glauben treu bleiben, aber jüdische Rituale leben. Oder sie konnte zum Judentum übertreten.
Und schließlich überlegten die beiden, wie eine Synthese ihrer unterschiedlichen Standpunkte aussehen konnte. Sie konnten einen Weihnachtsbaum kaufen, ihn gemeinsam mit den Kindern schmücken, und ihm dann ihre persönliche Bedeutung geben: Linda konnte ihn als Weihnachtsbaum sehen, und Josh als Chanukka-Dekoration.
Bewerten Sie, welches Szenario die Unterschiede am besten harmonisiert
Nach dem Brainstorming gab ich Linda und Josh einige Minuten, um über die Szenarien nachzudenken und schließlich die Optionen zu bewerten. Dabei sollte folgende Frage im Mittelpunkt stehen: »Welches Szenario oder welche Kombination aus Szenarien erscheint Ihnen am attraktivsten und am ehesten zu verwirklichen?«
Wägen Sie Vor- und Nachteile ab
Linda und Josh merkten schnell, dass es den einen richtigen Weg zur harmonischen Koexistenz nicht gibt. Trennung kann die emotionale Heftigkeit des Konflikts lindern: Trennt die Armeen, und die Krise wird abgewendet. Andererseits kann die Trennung zwar helfen, Frieden zu stiften, doch sie kann daran hindern, ihn einzuhalten. Während der blutigen Auseinandersetzungen in Nordirland wurden »Friedensmauern« errichtet, um Stadtviertel zu befrieden, die als Brennpunkte der Gewalt bekannt waren. Während eines Besuchs in Nordirland sah ich erstaunt, dass diese Mauern auch über zehn Jahre nach dem Karfreitagsabkommen noch standen, und dass es seither sogar noch mehr geworden waren. Die Mauern schützten Stadtteile, doch sie standen auch der Integration im Weg.
Auch Assimilation kann kurzfristig eine Einigung ermöglichen, aber langfristig Groll bewirken. Wenn Sie sich an die Identität des anderen anpassen, diese aber im Grunde Ihres Herzens ablehnen, dann kann die Reaktion explosiv sein. Stellen Sie sich vor, Josh lasst sich darauf ein, einen Weihnachtsbaum aufzustellen, und ändert seine Meinung, wenn er im Wohnzimmer leibhaftig vor ihm steht. Der Groll, der nie ganz besänftigt war, reist ihn in einen Strudel und er fragte sich: »Wie konnte ich nur meine Herkunft verraten?«
Die Synthese hat viele Vorteile. Wenn Sie und die andere Seite Wege finden, beide Identitäten nebeneinander existieren zu lassen, dann kann Ihre Beziehung auch heftigem Gegenwind standhalten. Die Verbindung wird immer starker und Sie fühlen die Verpflichtung, in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzustehen. Weil Sie »in einem Boot sitzen«, haben Sie keinen Anreiz, die Beziehung zu sabotieren. Aber auch die Synthese ist kein Allheilmittel. Es kann sehr schwer sein, eine Schnittmenge zu finden, die beiden Seiten genehm ist und in der die Gegenspieler nebeneinander existieren können. Wie könnte beispielsweise ein Rechtsstaat eine Synthese mit einer Terrorgruppe herstellen? Außerdem besteht die Gefahr, dass eine machtigere Gruppe einer schwächeren ihre Vorstellungen aufzwingt und die Einigung auf deren Kosten geht. Ganz abgesehen davon, dass der Erhalt der Synthese bewusstes und langfristiges Engagement voraussetzt. Die Ehe ist ein großartiges Beispiel für eine Synthese, doch um sie zu erhalten, reicht es nicht, einmal vor dem Traualtar »Ja« zu sagen. (….)
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