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Wissenschaft

»Politik ist ein anspruchsvolles, kompliziertes Unternehmen.« Emanuel Richter

Prof. em. Dr. Emanuel Richter, vom Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen spricht über sein aktuelles Buch »Was ist heute Politik?«

Sie schreiben, dass den Europäer:innen ein ausgewogenes und gehaltvolles Politikverständnis verloren gegangen sei. Was macht für Sie ein gesundes Politikverständnis aus?

Emanuel Richter: Politik ist immer eine gemeinsame, unter allen Betroffenen gut aufeinander abgestimmte Zielverfolgung im Interesse der gemeinsamen Lebensbewältigung. Die politische Wahrnehmung der Regierenden wie der Bevölkerung muss also daraufhin geschärft werden, dass wir durch die Politik allesamt in eine enge Verbindung miteinander treten, man könnte geradezu sagen, in eine wechselseitige Abhängigkeit voneinander geraten, die uns einiges abverlangt. Dazu gehört zunächst einmal die Anerkennung der Bedeutsamkeit von Politik für das alltägliche Leben jedes Einzelnen von uns. Gefordert ist damit auch die Anerkennung der Herausforderungen und Schwierigkeiten, das kollektive Leben zu organisieren. Politik ist ein anspruchsvolles, kompliziertes Unternehmen. Für jeden Einzelnen ergibt sich daraus die notwendige Bereitschaft, aufeinander Rücksicht zu nehmen, Verständnis für die Bedürfnisse Anderer aufzubringen, Kompromisse zu schließen, und natürlich an der gemeinsamen Lebensbewältigung konstruktiv mitzuwirken.


Wir leben in einer postmodernen Gesellschaft der Singularitäten. Auch Sie beschreiben, dass die Interessen und Lebenswelten der Menschen immer spezifischer; Kompromisse und übergeordnete Linien also immer schwieriger werden. Ist diese Entwicklung wieder einzufangen? Ist Meinungspluralismus nicht ein Pfeiler unsrer Demokratie?

Emanuel Richter: Zunächst einmal muss man sich die verbreitete Vereinzelung und Ichbezogenheit bei der Einschätzung und beim Umgang mit dem politischen Handlungsbedarf bewusst machen. Wenn man seine Wahrnehmung der Politik auf die Abschätzung dessen reduziert, was für einen selbst daraus an Zumutungen, Einschränkungen und Entbehrungen erwächst, hat man den Sinn für die Gemeinsamkeit schon verfehlt. Eine grundlegende politische Bewusstseinsbildung hilft also, die Notwendigkeit des aufeinander abgestimmten Handelns, eines produktiven und rücksichtsvollen Zusammenwirkens, zu verstehen und die Vereinzelung zu überwinden. Das beeinträchtigt keineswegs den Meinungspluralismus, denn natürlich gibt es höchst unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen, Wahrnehmungen und Wünsche. Aber stets muss man sich bewusst machen, dass diese bedachtsam untereinander vermittelt und aufeinander abgestimmt werden müssen. Politik erschöpft sich eben nicht im Konkurrenzkampf um die Wahrung der eigenen Selbstwirksamkeit, sondern lebt von der Beachtung und Pflege der kollektiven Bindungen in allen Formen der Problembewältigung.

 

Warum gelingt es rechtsradikalen Bewegungen und Parteien, teils konträre Lebensrealitäten und -vorstellungen zu bündeln, wohingegen das den Parteien auf dem restlichen Spektrum nicht gelingen mag?

Emanuel Richter: Die rechtsradikalen Bewegungen und Parteien haben auch deshalb so viel Erfolg, weil sie in der politischen Sphäre als Kämpfer für den Eigennutz auftreten und damit das Erfordernis der kollektiven, untereinander gut abgestimmten Zielverfolgung vernachlässigen oder offen missachten. Sie geben sich insofern geradezu unpolitisch. Im Rechtspopulismus verweigert man sich der Einsicht in die Vielschichtigkeit des politischen Handelns und in die schwierige Suche nach Kompromissen, nach Verständigung, nach gegenseitigem Respekt und nach Ausgleich. Stattdessen pflegt man eine dogmatische Prinzipienhaftigkeit, die sich auf Schlagworte und Aufregerthemen beschränkt. Die Komplexität der Politik wird banalisiert, und das spricht manche Wählerinnen und Wähler an, weil es vorgaukelt, diese von all den Schwierigkeiten entlasten zu können, die in der politischen Problembewältigung unvermeidlicher Weise angelegt sind und die man, gerade in Zeiten gehäufter Krisen, als Belastung der eigenen Lebensführung wahrnimmt. Das ist aber ein Täuschungsmanöver. Die Parteien müssen also mehr Gewicht auf die Aufgabe legen, der Bevölkerung die Vielschichtigkeit der Politik nahe zu bringen und die Einbindung jedes Einzelnen in dieses möglichst gemeinschaftlich gestaltete Geschehen deutlich zu machen. Denn wer konstruktiv daran mitwirkt, wird das politische Geschehen nicht nur als Zumutung empfinden, sondern als gemeinsam vollbrachtes Bemühen um die zweckdienliche Gestaltung des Zusammenlebens.

 

Ihre These ist, dass ohne ein grundlegendes Verständnis der Komplexität politischer Zusammenhänge keine Krisenbewältigung gelingen könne – welche Grundcharakteristika einer gelungenen Demokratie würden Sie Politiker:innen auf den Weg geben? Wie sollten Sie Diskurse zu Kollektivinteressen bündeln?

Emanuel Richter: Die Politikerinnen und Politiker müssen aufhören, der Bevölkerung das Regieren bloß als eine geradezu technokratische Dienstleistung anzubieten, die sie im Auftrag der Wählerinnen und Wähler erbringen. Man übt sich zu oft in der Demonstration einer volksfernen Allkompetenz, einer steten Lagebeherrschung und der diplomatischen Beschwichtigung. Das geht einher mit Belehrung und Rechthaberei. Dieses Selbstverständnis verharmlost und kaschiert all die Unwägbarkeiten, Komplikationen, Dilemmata und Zielkonflikte, die in der Politik angelegt sind. Es handelt sich letztendlich um die Beförderung eines grundlegenden Missverständnisses über die komplexe Gestalt der Politik. Das trägt am Ende nur dazu bei, die Bevölkerung in ihrer politischen Wahrnehmung zu entmündigen und sie zu bloßen Adressaten von Entscheidungsabläufen herabzuwürdigen, die fernab von der eigenen Lebenswelt stattfinden. Eine ehrliche politische Haltung der Regierenden muss dazu beitragen, dass jede einzelne Person die wechselseitige Abhängigkeit hinsichtlich der politischen Problembewältigung begreift, dass sie Verständnis für die Kompromissbildung bei der Entscheidungsfindung und für unerfüllte Bedürfnisse aufbringt, und dass sie möglichst selbst bereit ist, als demokratisch aktiver Teilhaber, tatkräftig daran mitzuwirken, die gemeinsamen Belange einvernehmlich und friedfertig zu bewältigen.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Emanuel Richter war nach Lehrtätigkeiten in den USA von 2000 bis 2020 Professor für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen. Seitdem ist er als Publizist sowie als Kommentator des politischen Geschehens in Fernsehen, Rundfunk und Presse tätig.

Wenn Sie das Interview zweitverwerten möchten, wenden Sie sich bitte an: Amelie May unter a.may(at)beltz.de

31.07.2024

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Was ist heute Politik?
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