Auf einer der ersten Buchseiten wünschen Sie ihren Lesern »Mehr Lebenszeit«. Verschwendet der »homo digitalis« – also verschwenden wir – denn im Allgemeinen zu viel davon?
Anitra Eggler: Viel zu viel! Mehr als die Hälfte seiner 16 Wachstunden verbringt der Homo Digitalis mit seinem Handy, im Netz und vor der Glotze. Zehn Kuss-Sekunden erschummelt er sich täglich durch Emojis. Der Homo Digitalis ist ein lebenszeitverachtender Prioritätensetzer: Die schönsten Momente fotografiert er, statt sie zu erleben, am Smartphone hängt er wie an einer Herzlungenmaschine, ohne Storm ist er nicht lebensfähig. 88mal am Tag wird das Handy »gecheckt«, hat man eine neue Mail wahrgenommen, bleibt diese maximal zwei Minuten ungelesen – auch wenn es die unnötigste Viagraspam-Mail aller Zeiten ist.
Reflex statt Reflektion ist das Lebensmotto des Homo Digitalis. Das gilt auch für die Arbeitszeit, blinder Aktionismus und Beschäftigungstherapie sind die digitalen Produktivitätstreiber. Der Homo Digitalis ist allzeit empfangsbereit, aber genau deshalb dauerabgelenkt. Er glaubt, überall zu sein, ist aber nirgends mehr wirklich präsent. Weder beim Partner, noch bei den eigenen Kindern und am Arbeitsplatz schon gar nicht. Doch die Schonzeit des Homo Digitalis läuft ab: »Leg das Smartphone doch endlich mal weg!«, wird immer lauter, der wirtschaftliche und gesundheitliche Schaden durch digitale Dauerablenkung immer messbarer.Arbeitgeber erkennen: Wer in Nanosekunden auf Mails antwortet, ist nicht produktiv, sondern süchtig nach digitaler Dauerablenkung – die »Mail dich hoch«-Mentalität hat ihr Verfallsdatum erreicht.
Digitale Zeiten verursachen »digitale« Krankheiten. Daten Diarrhö, Smartphone-Sucht, Social-Media-Inkontinenz. Was ist die einfachste Therapieform für den gestressten oder gar erkrankten User?
Anitra Eggler: Abschalten. Klar, das ist die naheliegende Antwort. Aber bevor Sie jetzt auf die Idee kommen, dass sei die typisch unzeitgemäße Idee einer kulturpessimistischen Digitalverweigerin, die sich nach der Brieftaubenzeit sehnt. Nö! Das wäre nicht recht, sondern einfach nur billig. Abschalten ist eine Medienkompetenz, die man erst lernen kann, wenn man davor auch richtig angeschaltet hat. Die Online-Verweigerer, die jetzt denken, »hey super, ich sitze die Digitalisierung seit 20 Jahren erfolgreich aus, da bleib ich einfach off«, haben ein genauso großes Problem wie Smartphone-Suchtis, die nicht mehr abschalten können, weil sie am digitalen Dope hängen.
Es geht also nicht zwingend darum, weniger online zu sein, sondern darum, besser und bewusster online zu sein?
Anitra Eggler: Richtig. Erst wenn man das Abschalten wieder drauf hat, ohne Entzugserscheinen zu bekommen (jeder Zweite leidet an »eingebildetem Vibrationsalarm«, wenn er mal off geht – das lässt nach 90 Minuten nach), erst wenn man das Handy erfolgreich vom Esstisch und aus dem Schlafzimmer verbannt hat, erst wenn man die Kindererziehung wieder selbst in die Hand nimmt, statt sie den Kindern in Form von digitalem Spielzeug in die Hand zu geben und erst wenn man wieder mit der eigenen Priorisierung und nicht mit Zeittotschläger-Gruppenchats in den Tag startet, dann, aber wirklich erst dann, geht es nicht mehr zwingend darum, weniger online zu sein, aber es geht immer und wird immer darum gehen, besser und effizienter und bewusster online zu sein.
In Ihrem Buch stecken scharfsinnige Beobachtungen, aber auch Diagnose- und Therapie! Zum Beispiel bieten Sie einen Selbsttest an: »Wie viel E-Mail Wahnsinn steckt in Ihnen?« Was ist Ihr persönlicher Tipp, um sich von E-Mails nicht »gaga« machen zu lassen?
Anitra Eggler: E-Mail-Öffnungszeiten. Ideal ist, wenn man als Mensch mit Menschenverstand selbst in der Lage ist, sein Postfach nur noch dreimal am Tag zu öffnen und dann konzentriert am Stück Post abarbeitet. Klingt so einfach, konnten bis vor zehn Jahren auch noch alle, sogar die ganz Doofen, können im Jahr 2017 die wenigsten, auch die ganz Intelligenten nicht. Lassen sich vom ständigen Alarm im Belohnungszentrum »Neue Nachricht! Nur mal ganz kurz nachsehen, ob es was Schönes, oder was Schreckliches ist … Och, doch nur ein Emoji-Gangbang im Elterngruppenchat …« durch den Tag treiben, wie die Sau durchs Dorf.
In Fabriken sagt jeder: »Klar, Handyverbot, auf jeden Fall!« Weil, sonst Arm ab und da ist auch noch das Firmensmartphone dran … Aber in Büros, in Meetings, in den Controlling-Abteilungen, dort wehren sich noch alle gegen E-Mail-Öffnungszeiten und Handyverbot, dabei: Wenn einer im Excel einen Bock schießt und sich um zwei Kommastellen verrechnet, dann kann das in Nullkommanix noch viel gravierendere Auswirkungen haben als ein Unfall in der Produktion! Das ist ein total unterschätztes Problem: Was sich als „hey, ich bin total digital und ständig erreichbar und voll engagiert“ ausgibt, ist in den meisten Fällen hochgradig aktionistisch, digital versklavt, fremdbestimmt, ineffizient und dreht so hilflos durchs digitale Hamsterrad wie der berühmte Hamster … – und nein, das sind nicht nur die digital natives, das trifft die digitalen Migranten genauso, teilweise noch mehr.
Sie sind eine Internet-Aktivistin, die sich für einen selbstbestimmten, selbstverantwortlichen und selbstkritischen Umgang mit digitalen Chancen und Gefahren. Wünschen Sie sich manchmal in eine Zeit zurück, in der es keine E-Mails, Smartphones gab?
Anitra Eggler: Nein. Niemals. Ich liebe und lebe das Jetzt. Jetzt ist alles und das Beste, was wir haben. Ich liebe Digitalika und war zwölf Jahre in der Internetbranche an vorderster Front erfolgreich. Als Internetpionierin und Journalistin habe ich Ende der Neunziger für den digitalen Segen missioniert: Zeitersparnis, Erleichterung in allen Belangen des Alltags, Demokratisierung von Information, Vernetzung der Menschheit, unendliche Verfügbarkeit und exponentielles Wachstum von Wissen (ich liebe eLearning!), ach Gottchen, die Vorteile aufzuzählen ist müßig, ich denke, Sie wissen, was ich meine, es gibt aber zu viele Menschen, die das Digitale immer noch zu unkritisch hypen.
Ich war auch viele Jahre zu naiv und habe die Nebenwirkungen ein Jahrzehnt lang nicht gesehen oder vor lauter digitalem Aktionismus einfach übersehen. Ende der Nullerjahre wurde mir bewusst, dass wenn wir so weiter machen, setzen wir alles aufs Spiel, wofür die Menschheit je gekämpft hat, allem voran die persönliche Freiheit und Lebenszeit. Das sind unsere wertvollsten Güter! Deshalb bin ich heute so grenzwertig und maximal spaßverderbend deutlich. Glauben Sie mir, ich würde auch lieber alles toll finden und die Menschen in meinen Vorträgen loben – das ist viel einfacher, macht wesentlich beliebter und bringt viel mehr Applaus als den Leuten zu sagen, dass sie digitale Deppen sind. Ich bin nicht Robin Hood, aber als einstige Internetpionierin und heutige Internetveteranin fühle ich mich ein bisschen mitverantwortlich für die digitale Misere unserer Zeit.
Sie sagen: » Ihr Handy will Sie beherrschen.« Und Sie sagen: »Es gibt nur eine Chance, Ihr Handy zu beherrschen. Das Sicherheitswort lautet: konfigurieren!« Können wir uns oft aus lauter Unwissenheit nicht vor der Versklavung retten? Oder anders gesagt: Nur mit einer ausreichenden Portion digitalen Wissens bekommen wir die »Herrschaft« über unser Leben zurück?
Anitra Eggler: Ja, das ist richtig und genau das ist die große Herausforderung. Ich mache mich gerne mit dieser These unbeliebt: 50 Prozent aller Nutzer sind digitale Analphabeten, die man führerscheinfrei auf die linke Spur der Datenautobahn gelassen hat. Besonders gravierend ist, dass dort 8-jährige mit 80-jährigen kollidieren und Vorstandsvorsitzende frontal in digital Natives krachen – die digitale Naivität von Menschen aller Altersklassen und Bildungsgraden ist in meinen Augen das derzeit am meisten unterschätzte Digitalisierungsproblem.
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir müssen unsere Zeit nutzen, um uns digital fit zu machen. Der Ruf nach und das Trommeln für 4.0 ist in Wirklichkeit eine hübsch verpackte Bankrotterklärung. Viel wichtiger wäre, die dringende Notwendigkeit einer breitenwirksamen digitalen Bildung 1.0 zu erkennen und Maßnahmen umzusetzen, die dem Einzelnen helfen, den digitalen Segen individuell zu erkennen, zu konfigurieren, zu nutzen und gleichzeitig den digitalen Fluch auszuschalten.
Anitra Eggler war Schulschnellste am Gymnasium in Karlsruhe, sie war Todesanzeigentexterin in Buenos Aires, Journalismus-Stipendiatin in Passau, Internet-Pionierin in München, »Powerfrau des Jahres« in Wien. Heute ist die Erfolgsautorin die gefragteste weibliche Stimme zur Digitalisierung. Als Rednerin zählt sie zu den Top 20 im deutschsprachigen Raum. Ihr Bühnenprogramm begeistert Hunderttausende – Dax-Vorstände, Nerds und Whats-App-Omis inklusive.