Eine gehirnfreundliche Unternehmenskultur. Was kann man darunter eigentlich verstehen?
Friederike Fabritius: Gehirnfreundlich ist ein Arbeitsplatz, der sich an unser Gehirn anpasst und nicht andersherum. Wir sind nicht dafür gemacht, 120 Stunden pro Woche zu arbeiten. Dennoch arbeiten viele Führungskräfte so! Unsere Vorfahren zum Beispiel arbeiteten nur 15 Stunden pro Woche, und diese Jäger- und Sammlergesellschaften machen über 99 Prozent unserer Geschichte aus. Wir sind nicht für Schlafentzug gemacht. Auch nicht dafür, uns tagsüber wenig zu bewegen und kaum Pausen zu machen. All dies schadet nicht nur unserem Wohlbefinden, sondern auch unserer Leistung und unserer Innovationsfähigkeit.
Wichtig ist auch: Jedes Gehirn ist anders. In meinem Buch stelle ich mein neues Konzept der »Neurosignatur-Diversität« vor. Es besagt, dass wir alle unterschiedliche Neurosignaturen haben, die bestimmen, wie unser Gehirn funktioniert, wie wir denken und worin unsere Stärken liegen. All das hängt von den Aktivitätsmustern im Dopamin-, Serotonin-, Östrogen- und Testosteronsystem ab. Um individuelle Bestleistungen zu erbringen, braucht jeder ein bestimmtes Arbeitsumfeld – entsprechend seiner Neurosignatur.
Bedeutet das, dass wir ein Arbeitsumfeld schaffen müssen, das es unterschiedlichen Menschen ermöglicht, auf unterschiedliche Weise zu arbeiten?
Friederike Fabritius: Genau! Wenn Sie ein Mensch mit einer Dopamin-Neurosignatur sind, wünschen Sie sich viel Abwechslung, ein rasantes Umfeld und viel Neues oder sogar etwas Risiko in ihrem Arbeitsalltag. Wenn Sie eine Person mit einer Serotonin-Neurosignatur sind, möchten Sie eher in einer ruhigen Umgebung arbeiten, in der es Routinen gibt. So existiert für alle Neurosignaturen der ideale Arbeitsplatz. Wir müssen verstehen, dass es gut ist, dass wir alle unterschiedlich sind!
Sie sagen, dass alte Klischees von nimmermüden Workaholics ausgedient haben. Schluss mit vielen Überstunden, wenig Schlaf, dauernder Hektik, denn die bringen ohnehin keine Leistungsfähigkeit. Was empfehlen Sie stattdessen, um zur persönlichen Höchstleistung zu gelangen?
Friederike Fabritius: Alles, was wir brauchen, um Spitzenleistungen zu erzielen, ist ein Cocktail aus drei Neurochemikalien: Dopamin, Noradrenalin und Acetylcholin. Oder einfacher: Alles, was wir brauchen, ist Freude, Furcht und Fokus. Wenn alle drei Faktoren zusammenkommen, können wir den Flow-Zustand erreichen! Und wenn wir im Flow sind, arbeiten wir bis zu fünfmal effektiver als sonst. Die Wissenschaft zeigt: Wir müssen nicht einfach darauf warten, dass sich dieser Zustand einstellt. Wir können ihn selbst herbeiführen, und zwar strategisch! Wie es geht, verrate ich in meinem Buch.
Insbesondere hochqualifizierte Frauen kehren Unternehmen den Rücken, weil sie sich an ihrem Arbeitsplatz nicht gut aufgehoben fühlen. 4,8 Prozent der Fortune-500-Unternehmen haben weibliche CEOs – das hat sich seit 2010 kaum geändert. Beinhaltet Ihr Ansatz auch die Chance, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen?
Friederike Fabritius: Wenn Sie die Vielfalt der Neurosignaturen am Arbeitsplatz erhöhen, verbessern Sie automatisch auch die Vielfalt der Geschlechter am Arbeitsplatz. Die bedauerliche Wahrheit ist nämlich, dass die meisten Diversity-Maßnahmen in gewisser Weise oberflächlich sind. Sie lehren die Menschen, ihr Verhalten zu ändern und ihre Vorurteile zu verlieren, doch die Wirkung dieser Maßnahmen ist sehr begrenzt. Wir müssen einen echten Wandel am Arbeitsplatz herbeiführen, das heißt, wir müssen nicht die Menschen ändern, sondern das System!
Als ich für dieses Buch recherchierte, entdeckte ich etwas, das ich als »Neurogap« bezeichne. Ich habe herausgefunden, dass die meisten Menschen in Führungspositionen (egal welchen Geschlechts) eine Dopamin- oder Testosteron-Neurosignatur aufweisen. Diese Menschen sind stressresistent, hart im Nehmen, wettbewerbsorientiert und ehrgeizig, aber bis zu einem gewissen Grad denken sie auch alle gleich. Aus diesem Grund gibt es an der Spitze der Unternehmen nicht viel Gedankenvielfalt – das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen in Führungspositionen, denn sie haben eine ähnliche Neurosignatur.
Um echte Gedankenvielfalt zu erreichen, sollten wir darüber nachdenken, Männer und Frauen zu fördern, die unterschiedliche Neurosignaturen haben. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand eine Dopamin- und Testosteron-Neurosignatur hat, aber es gibt auch Menschen mit einer Östrogen- oder Serotonin-Neurosignatur, und auch sie sind am Arbeitsplatz sehr wertvoll. Allerdings werden sie für höhere Führungspositionen oft übersehen. Menschen mit einer Serotonin-Neurosignatur achten auf Details, sie achten auf Risiken. Sie sind oft sehr loyal und werden nicht in Skandale verwickelt. Menschen mit einer Östrogen-Neurosignatur sind sehr empathisch und finden oft erstaunliche Lösungen für verzwickte Business-Probleme. Das alles sind sehr wertvolle Eigenschaften! Viele Forscher, Nobelpreisträger und andere Menschen mit der Fähigkeit zu großer Führungsstärke haben Serotonin-oder Östrogen-Neurosignaturen.
Wenn Sie über Diversity sprechen, sprechen Sie nicht unbedingt über Geschlecht, Herkunft oder soziale Stellung, sondern über Neurosignaturen. Wie sieht aus Ihrer Sicht ein diverses Team aus, das vom Unterschied in den Neurosignaturen profitiert und gemeinsam besonders leistungsfähig ist?
Friederike Fabritius: Wenn Sie sich darauf konzentrieren, die Vielfalt der Neurosignaturen zu unterstützen, werden Sie automatisch ein Team haben, das leistungsfähiger ist. Allerdings liegt es in unserer Natur, Menschen einzustellen und zu fördern, die uns ähnlich sind, weil wir in ihnen unsere Stärken sehen. Wenn wir jedoch Menschen einstellen, die andere Stärken haben als wir selbst, hilft uns das, einige Schwächen zu beseitigen.
Ein weiterer wichtiger Punkt, über den man nachdenken sollte: Selbst wenn Manager ein diverses Team einstellen, von diesen Leuten, aber erwartet wird, dass sie alle gleich denken, sobald sie im Unternehmen sind, ist nichts gewonnen. Selbst wenn Sie ein vielfältiges Team einstellen, müssen Sie eine Arbeitsplatzkultur schaffen, die es den Mitarbeitern erlaubt, abweichende Meinungen zu äußern. Die Forschung zeigt uns, dass einige wenige Personen in einem Team, die anderer Meinung sind, das Denken aller vertiefen und dazu beitragen, dass alle ihr Bestes geben! Wir brauchen diese Menschen am Arbeitsplatz, die den aktuellen Status quo in Frage stellen.
Wie beginnen Sie Ihren Arbeitstag und wie beschließen Sie ihn?
Friederike Fabritius: Sobald meine Kinder in der Schule und im Kindergarten sind, setze ich meine Kopfhörer auf und höre immer klassische Musik (mein Lieblingskomponist ist Johann Sebastian Bach). Und sobald ich die Kopfhörer aufsetze und mich an meinen Laptop setze, komme ich in einen Flow. Ich bin ganz im Hier und Jetzt präsent. Ich liebe, was ich tue – das macht es einfach!
Zudem versuche ich meinen eigenen Rat zu befolgen und baue selbst viel gehirngerechtes Arbeiten in meinen Arbeitstag ein. Ich mache Sport, genieße die Stille und mache Brain Brakes. Ich vermeide Besprechungen und nehme nur an denjenigen teil, die unbedingt notwendig sind.
Aber wie beende ich meinen Arbeitstag? Das ist eine gute Frage. Als berufstätige Mutter ist meine Zeit begrenzt, und wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen, höre ich auf. Es gibt keine bestimmte Routine oder so etwas - ich achte nur darauf, dass ich die Zeit mit ihnen so gut wie möglich ausnutze! Ich liebe meine Arbeit, ich liebe, was ich tue – aber an erster Stelle steht für mich meine Familie.
Vielen Dank für das spannende Gespräch!