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Leben

»Unser Hirn ist es, das uns durch die Zeit steuert.« Christiane Stenger

Gedächtnisweltmeisterin Christiane Stenger hat ein neues Buch geschrieben. In »Lassen Sie Ihre Zeit nicht unbeaufsichtigt!« geht es um nichts Geringeres als das Phänomen der Zeit. Wie sie tickt, wie wir sie entschleunigen können und wie eng sie mit unserem Glücksempfinden verbunden ist, lesen Sie in Ihrem Buch.

Zeit ist ein faszinierendes Thema, das man aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachten kann. Wie kamst Du persönlich auf das Thema Zeit?

Christiane Stenger: Tatsächlich gab es so einen Moment. Vor fünf Jahren bin ich umgezogen. Die neuen Möbel standen schon in der Wohnung, aber ich hatte noch kein Internet und keinen Fernseher. Und nachmittags machte sich ein ganz seltsames Gefühl breit, als ob die Zeit stillstehen würde, es machte sich so eine angenehme Ruhe breit und ich fragte mich, warum ich mich seit Jahren nicht so gefühlt hatte wie in dieser Situation. Ich saß also auf meiner Couch und dachte, dass es komisch ist, wie wenig ich über die Zeit weiß, zum Beispiel, warum wir sie wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen. Außerdem wollte ich immer schon über das Glück schreiben und ich stellte dann fest, dass die beiden Themen in einer sehr engen Beziehung stehen.

 

Zeit entsteht in unserem Kopf – wie, erklärst Du in Deinem Buch. Kannst Du uns eine erste Idee davon geben, wie es konkret funktioniert?

Christiane Stenger: Für die Wahrnehmung der Zeit verfügen wir über keinen »Sinn«, wie fürs Schmecken, Riechen, Hören, Sehen oder Fühlen. Vielmehr hat das Gehirn ein System entwickelt, um die Zeit zu »konstruieren«. Erstaunlich ist, dass es zwar viele Vermutungen gibt, wie das funktionieren könnte, aber noch keine wissenschaftliche Übereinkunft besteht, dafür aber umso mehr faszinierende Thesen.

 

Was ist der Vorteil, sich mit der Zeit besser auszukennen und zu wissen, wie unser Kopf dieZeit beeinflusst?

Christiane Stenger: Unser Hirn ist es, das uns durch die Zeit steuert. Und dort ist jede Menge los und es gibt unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse, die ich im Buch in Form von Tieren visualisiere. Das Faultier steht zum Beispiel für unsere zeitliche Kurzsichtigkeit und dafür, dass wir etwas meistens lieber sofort haben wollen oder uns allgemein nicht so gerne anstrengen. Der kleine Spatz ist das Bild für unsere Neugier, das Chamäleon steht für unsere Gefühle, der Papagei für unsere innere Stimme, die eine große Rolle bei den Entscheidungen spielt, wie wir unsere Zeit verbringen; da herrscht ein richtiges Getümmel mit vielen weiteren Eigenschaften. Wenn wir verstehen, was in unserem Hirn vor sich geht, verstehen wir viel leichter, warum wir handeln, wie wir handeln und denken, wie wir fühlen. Und wenn uns das klar ist, ist es auch leichter, die Zeit so zu nutzen, wie wir sie wirklich nutzen möchten.

 

Was hat Dich im Rahmen Ihrer Recherchen am meisten beeindruckt oder überrascht?

Christiane Stenger: Ehrlich gesagt, war das eine ganze Menge Faszinierendes. Ich fand es erstaunlich, wie viele verschiedene Blicke es auf die Zeit oder Definitionen der Zeit gibt und dass man sie auch deswegen so schwer zu greifen bekommt. Ich fand es auch nahezu verrückt, wie wenig Gedanken ich mir über die Zeit gemacht habe, da es unfassbar wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, wie facettenreich sie ist und auch besser zu verstehen, warum mir eine Situation mal schnell oder langsam vorkommt.

 

Je älter wir werden, desto schneller bekommen wir das Gefühl, dass die Zeit plötzlich zu rennen beginnt, während sich die Vergangenheit langsam auszudehnen scheint. Kann man die rennende Zeit entschleunigen?

Christiane Stenger: Natürlich! Wenn wir an unsere Jugend zurückdenken, scheint es uns so, als ob die Zeit viel langsamer vergangen wäre, als sie das heute tut. Am besten können wir uns auch angeblich auch an die Zeit erinnern, als wir 15 bis 25 Jahre alt waren; Forscher nennen sie auch Erinnerungshügel.Wenn wir unsere Zeit im Heute »bremsen« möchten, hilft es, jeden Tag etwas anders zu gestalten. Erleben wir Neues, erleben wir die Welt um uns herum viel bewusster.Die Zeit vergeht zum Beispiel langsamer, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten. Wir müssen dazu nicht jeden Tag einen neuen Weg zur Arbeit nehmen, aber vielleicht versuchen Sie, auf dem Weg dorthin etwas Neues zu entdecken, das Ihnen noch nie aufgefallen ist. Je mehr Vielfalt und Neues unser Hirn erlebt, desto langsamer vergeht die Zeit – zumindest in der Rückschau. Im Erleben rast die Zeit meistens davon, vor allem wenn wir sehr glücklich sind.

 

Sie haben sich entschieden, dem Klimawandel in Ihrem Buch ein Kapitel zu widmen. Nehmen wir uns zu wenig Zeit für die wirklich wichtigen Themen?

Christiane Stenger: Ich glaube, dass trifft in sehr vielen Bereichen zu. Wir wollen lieber alles sofort und sind oft nicht bereit, im Jetzt auf etwas zu verzichten, was uns jedoch sehr viel Positives in der Zukunft bescheren würde. Der Weltklimarat IPPC hat vor kurzem vor den existentiellen Folgen der Klimaerwärmung für die Menschheit gewarnt. Das Thema ist dabei so unfassbar komplex, dass uns im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit davonläuft. Oft hören wir von Bedrohungsszenarien in ferner Zukunft, aber die Klimakatastrophe ist bereits heute in vollem Gange. Wenn wir jedoch keine wirkliche Vorstellung von der Zeit haben, und darüber, was die wissenschaftlichen Erkenntnisse für uns, und damit meine ich die Menschheit, bedeuten, dann werden wir uns schon in ein paar Jahren verzweifelt fragen, warum wir nicht früher gehandelt haben. Der Mensch leidet tendenziell unter einer sehr starken zeitlichen Kurzsichtigkeit und das wird uns wohl zum Verhängnis werden. Aber noch ist es nicht zu spät!

Wir danken Dir für das Gespräch!

 

Christiane Stenger hat in Rekordzeit ihr Abitur gemacht, studierte Politikwissenschaft und ist heute erfolgreiche Speakerin, Schauspielerin und TV-Moderatorin. Als mehrfache Gedächtnisweltmeisterin weiß sie nicht nur, wie man Wissen sammelt, sondern auch, wie man es im Kopf behält und kreativ damit umgeht. Nach dem Besuch der Stage School in Hamburg übernahm sie Moderationen, unter anderem zusammen mit Lutz van der Horst »Wie werd ich …?« auf ZDFneo. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, darunter der Bestseller »Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeaufsichtigt!« (Campus 2014). Zusammen mit Samira El Ouassil spricht sie im Podcast »Sag niemals Nietzsche« über Philosophie, engagiert sich für den Verein 10drei, der die Wertaussagen des Grundgesetzes für Jugendliche erlebbar macht, und gibt ihre Merktechniken gerne in Seminaren weiter.

18.08.2021

Wirtschaft & Gesellschaft

Lassen Sie Ihre Zeit nicht unbeaufsichtigt!
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