Wo Menschen zusammenkommen, geht es immer auch um Macht. Dennoch ist Macht in den letzten Jahren etwas in Verruf geraten. Woran liegt das?
Peter Modler: Machtanwendung ist in Deutschland schon seit dem Ende des NS-Staates in Verruf geraten. Nach diesem Exzess brutalen Machtmissbrauchs hat sich der Mainstream der deutschen Intellektuellen seither nur im Modus der Ironie oder der Abwertung mit Macht beschäftigt. Interesse an Machtfragen verstanden sie eher als Indiz für kranke seelische Strukturen. Damit wurde leider das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Natürlich gehört Machtkritik zu jeder Demokratie und in jede Firma, aber wenn Machtanwendung als grundsätzlich dubios, unangenehm und moralisch zweifelhaft verstanden wird, läuft etwas schief. »Macht korrumpiert«, sagen die Intellektuellen-Stammtische, und vergessen, dass tiefe Ohnmacht ebenfalls korrumpiert. Es geht um das Wie, nicht um das Ob.
Macht und Machtmissbrauch sind nicht dasselbe. Oft aber werden sie gleichgesetzt. Warum ist es ihnen wichtig, diesen Irrtum auszuräumen?
Peter Modler: Weil wir umgeben sind von einem Alltag aus funktionierender Machtanwendung. Dass eine Verkäuferin die Kunden in der gerechten Reihenfolge bedient, ist ein kleiner Akt gelingender Macht. Dass uns jemand operiert, wenn wir schwer krank sind, geht nur, wenn ich mich einer Narkose ausliefere. Das kann durchaus eine positive Machterfahrung sein. Wenn ich in den Bus einsteige, übt der Busfahrer seine professionelle Macht gegenüber den Fahrgästen aus. Das ist alles sehr unspektakulär, wir halten das für selbstverständlich. Wenn ich aber bei allen diesen alltäglichen Akten von vornherein die Neigung zum Machtmissbrauch unterstellen würde, löst sich jede Gesellschaft auf. Die simple Gleichsetzung von Macht mit Machtmissbrauch verhindert, dass wir selbst damit gut umgehen lernen.
Welche Glaubenssätze stecken möglicherweise dahinter, wenn jemand gern Verantwortung übernehmen möchte, dies aber niemals mit Macht gleichsetzen würde?
Peter Modler: Viele Menschen möchten gern auf der moralisch richtigen Seite stehen, und das schaffen wir am leichtesten, wenn sie sich in irgendeiner Weise als Opfer verstehen können. Unschuld ist ungeheuer attraktiv, und die bekommen wir in den seltensten Fällen, wenn wir Macht anwenden. Denn sogar dann, wenn wir damit jemanden beschützen oder jemandem etwas ermöglichen, werden wir es nicht allen recht machen. Übernahme von Verantwortung führt nicht automatisch zu vielen Likes in meiner Umgebung, auch wenn das manche Firmenkulturen inzwischen naiv behaupten. Der Ernstfall von Verantwortung ist ja nicht die Routine, in der alles wie von selbst läuft, sondern die Krise. In der Krise geht es aber oft um Entscheidungen und um Zeitdruck. Wenn dann jemand eine Machtposition hat, die ihr oder ihm auch noch von allen anderen gegeben wurde, sie aber dann aus Furcht vor Unbeliebtheit nicht ausübt, verrät man Vertrauen.
Was passiert, wenn Menschen sich von verantwortungsbewusstem Machtgebrauch fernhalten?
Peter Modler: Dann lassen wir den Trumps freie Bahn. Wenn ich auf der Ersatzbank Platz nehme und mich weigere, das Spielfeld zu betreten – weil es viel bequemer ist, zu beobachten und kritische Kommentare zu verteilen – dann sollte ich mich nicht wundern, dass ich beim eigentlichen Spiel außen vor bleibe. Die Stärke der Demokratiefeinde ist die Schwäche der Demokraten. Wenn ich zulasse, dass ein Standard der Höflichkeit von der anderen Seite laufend verletzt wird, dann muss ich irgendwann diesen Standard einfordern, verteidigen und durchsetzen. Das Ergebnis der Distanzierung von Machtmöglichkeiten, die ich eigentlich hätte, ist die Auslieferung an Leute, die nur nackte Eigeninteressen verfolgen. Das Recht des Stärkeren ist das Drehbuch für den Untergang von Demokratien. Daran sind auch die schuld, die sich von Machtanwendung fernhalten.
Sie beschreiben Macht als eine Art Motor, zumindest aber als Möglichkeit, Dinge zu gestalten und produktiv voranzubringen?
Peter Modler: Machtanwendung an sich ist ein neutraler Vorgang. Wir können als Menschen gar nicht anders, als Macht anzuwenden oder die Macht anderer zu erfahren. Das grundsätzlich abzustreiten, zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Allerdings ist es ja ein Zeichen von Zivilisierung, den Gebrauch von Macht einzuhegen – durch Beschränkung von Amtszeiten etwa, durch Befristung von Verträgen für Führungskräfte, durch Wahlen, durch Gerichte usw. Wenn ich innerhalb dieses moralisch eingegrenzten Rahmens und aufgrund meiner beruflichen Rolle Macht ausübe, kann das trotzdem eine enorm schöpferische Erfahrung sein. Nicht etwa nur für mich! Denn um Macht an andere abzugeben, muss ich ja erstmal selbst welche haben.
Warum haben Sie Ihr Buch gerade jetzt geschrieben?
Peter Modler: Ich beschäftige mit seit einigen Jahren mit dem Thema Macht, weil mir bei immer mehr meiner Klientinnen und Klienten auffiel, wie oft sie Macht nur noch mit schlechtem Gewissen anwenden. Auch dann, wenn das ausgesprochen positive Effekte hatte. Machtanwendung hat hierzulande so ein mieses Image bekommen, dass immer mehr gut ausgebildete, hochintelligente Leute damit nichts zu tun haben wollen. Und das Internet ist nicht gerade eine Umgebung, in der die Übernahme von Verantwortung trainiert wird. Wir haben positive Machtanwendung so schlechtgeredet, dass es uns nun um die Ohren fliegt. Macht steht eben auch für den Schutz von Schwächeren, für Verteidigung von Demokratie, für Widerstand gegen Fundamentalisten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Peter Modler betreibt seit 1998 in Freiburg i. Br. eine eigene Unternehmensberatung. Über 3000 Führungskräfte haben an seinen Workshops und Trainings teilgenommen. Bekannt geworden ist er als Erfinder des »Arroganz-Trainings® für führende Frauen«. In seiner Coaching-Ausbildung »Profit by Difference« bildet er Führungskräfte im gesamten deutschen Sprachraum aus. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Wenn Höflichkeit reinhaut« (2022).