Alle reden über Sex. Die Magazine sind voll mit Geschichten über unser Sex- und Liebesleben und jede achte aufgerufene Internetseite ist eine Pornoseite. Dennoch wissen die Wenigsten, was Cougars , Love-Scammer, Sapiosexuelle, Coolidge-Effekt, NoFap-Bewegung, Silversex use. bedeutet. Wie offen gehen wir 2016 wirklich mit Sex um?
Volkmar Sigusch: Relativ offen gehen wir nur damit um, wenn ein Geschäft damit verbunden ist, professionell oder persönlich. Geht es aber um den Kern unseres erotisch-triebhaft-sexuellen Begehrens, verstecken, verdrängen, verleugnen wir. Denn wir verfügen über keine Ars erotica, keine Liebes- und Sexualkultur. Wir können nicht einmal einigermaßen angemessen darüber sprechen.
In Ihrem »Sex ABC« stecken 50 Jahre Forschung, Lehre und Therapie. Was war aus Ihrer Sicht in den letzten 50 Jahren eine überraschende Entwicklung ?
Volkmar Sigusch: Da gab es viele Überraschungen: Alles, was das Internet möglich gemacht hat, also vom E-Sex in seinen vielen Ausformungen über die Homo-Ehe im katholischen Irland oder liberale Transsexuellengesetze in Südamerika.
Sie sprechen in Ihrem Buch immer wieder von der Neosexuellen Revolution. Woran merken wir, dass diese stattgefunden hat?
Volkmar Sigusch: An Vielem. Das muss im Buch nachgelesen werden. Ich nenne hier einmal die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung sowie von Sexualität und Geschlecht, die Verfielfältigung der intimen Beziehungen, die Zerstreuung der sexuellen Fragmente, siehe Internet usw., die Würdigung der weiblichen Sexualität, ihrer großen Potenz, den Kampf gegen sexuellen Missbrauch, die Liberalisierung im Umgang mit sexuell oder geschlechtlich Abweichenden, ausgenommen die Pädophilen usw.
»Neue Freiheiten bringen neue Zwänge mit sich«, haben Sie in einem Interview mit dem Sueddeutschen gesagt. Mit welchen Zwängen haben wir es seit der neosexuellen Revolution zu tun?
Volkmar Sigusch: Der größte Zwang ist das, was ich Self-Sex nenne. Jede und jeder soll heute gefälligst alleine dafür sorgen, dass sie oder er sexuell zufrieden ist. Oder denken Sie an das Internet. Der junge Mann, der nicht nach »nackten Weibern« im Netz sucht, ist out of time, ein Waschlappen hoch drei.
Sie betreiben mit Ihrem Buch weit mehr als lexikalische Wissensvermittlung, sie üben immer wieder sehr pointierte Gesellschaftskritik. Ist die Sexualwissenschaft ein aufschlussreicher Indikator für den Zustand unserer Gesellschaft?
Volkmar Sigusch: Allerhöchstens die Kritische Sexualwissenschaft, nicht aber die affirmative, angepasste, die es bei uns auch gibt.
Zur Person Volkmar Sigusch
Sie möchten diesen Artikel weiterverwenden? Darüber freuen wir uns. Mehr über eine Wiederverwertung erfahren Sie in unseren Nutzungsbedingungen.