Der Genozid an den Herero und Nama (1904–1908)
Anfang Oktober 2015 war Bundestagspräsident Norbert Lammert auf heikler Mission in Namibia. Schon im Juli dieses Jahres hatte der hochrangige CDU-Politiker – aus Anlass des 100. Jahrestages der deutschen Kapitulation in Südwestafrika – ungewohnt offene Worte zu den »beschämenden Verbrechen« während des deutschen Kolonialismus gefunden und diese deutlich als »Genozid« gebrandmarkt hatte. Nur zwei Tage später änderte auch das Auswärtige Amt seine langjährige Position und gab bekannt, die Ereignisse nun ebenfalls als Völkermord zu bezeichnen. Damit gewann auch die Frage nach der offiziellen Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, verbunden mit einer Entschuldigung seitens des Bundespräsidenten und/oder des Bundestages, sowie die Frage nach geeigneten Formen der Aussöhnung und Wiedergutmachung deutlich an Bedeutung.
Offiziell war Lammert zu einem Arbeitsbesuch in Namibia, das heißt er führte dort Gespräche mit vielen Beteiligten und konnte so einen Eindruck über Stimmung und Situation vor Ort gewinnen. Offizielle Erklärungen waren von ihm jedoch nicht zu erwarten gewesen. Erfreulich ist auf jeden Fall, dass sich ein deutscher Spitzenpolitiker für die Möglichkeiten einer Verständigung über den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts interessiert und schon alleine dadurch einen kleinen Beitrag dazu leistet.
Entschuldigung, Aussöhnung und Wiedergutmachung
In Namibia sind die Folgen des ersten deutschen Genozids bis heute spür- und beobachtbar, etwa in der ungleichen Vermögensverteilung mit weltweit einem der höchsten Unterschiede zwischen reich und arm, mit vielen der Nachfahren der einstigen Opfer auf der untersten Stufe des Skala, und den Nachkommen der deutschen Kolonialisten, Siedler und Soldaten auf den oberen. Sie sind auch sichtbar in der Landverteilung, in der immer noch überproportional große Teile des Landes im Besitz »weißer« Farmer sind, gerade auch im »Hereroland«, das als Strafe für den Widerstand von deutscher Seite enteignet und nach und nach an deutsche Siedler verteilt worden war, in deren Händen es teilweise bis heute blieb.
Seit Jahren schon fordern vor allem Vertreter der Herero und Nama eine Anerkennung des Krieges als Völkermord, eine offizielle deutsche Entschuldigung und Reparationen. Ein erster Versuch, Wiedergutmachung juristisch einzuklagen, scheiterte 2001 in den USA. Eine erneute Klage steht immer noch im Raum.
Bereits 2004, aus Anlass des 100. Jahrestages des Kriegsbeginns, hatte sich mit der damaligen Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, ein deutsches Regierungsmitglied in offizieller Funktion entschuldigt. In Deutschland selbst wurde die SPD-Politikerin dafür lange geschmäht, mit den Entwicklungen seit Juli ist ihre Position zumindest in dieser Frage nachträglich rehabilitiert. Dass dies geschlagene elf Jahre dauerte, ist jedoch auch Beleg dafür, dass ihre Initiative zum Teil letztlich verpufft war.
Das Fehlen der Zivilgesellschaft
Es lohnt sich darüber nachzudenken, wieso dies geschehen ist, auch um eine Wiederholung zu vermeiden. Sicherlich gibt es verschiedene Gründe dafür, zum Teil liegen sie auch in namibischer wie deutscher Innenpolitik, also in der durchaus wechselhaften Bereitschaft der Regierungen, Forderungen der Opfergruppen zu unterstützen. Mit am nachteiligsten wirkte sich die Entscheidung aus, die Vergangenheit im Wesentlichen auf diplomatischem Weg bereinigen zu wollen, in direkten Konsultationen der Regierungen beider Länder. Es mag zwar diplomatischen Gepflogenheiten entsprochen haben, nur Staaten und deren Führungen als internationale Gesprächspartner anzuerkennen, aber das weitgehende Außen-vor-Lassen der Zivilgesellschaft zeitigte weitreichende Folgen.
Auch sollte es sich als schwere Hypothek erweisen, dass die politischen Bemühungen nicht oder kaum durch Maßnahmen zur historischen Aufklärung, zur politischen und schulischen Bildung oder allgemein der kollektiven Erinnerung flankiert wurde. Elf Jahre nach dieser Initiative ist das Wissen um (deutschen) Kolonialismus allgemein und um den ersten deutschen Genozid im Besonderen immer noch nicht überall in den Lehrplänen der Schulen verankert, gibt es keine offiziellen Denkmäler und wissen viele Menschen nichts oder kaum etwas über die zugrunde liegenden historischen Ereignisse. Wohlbemerkt, hier ist von Deutschland die Rede, nicht von Namibia.
Aber die Erinnerung an die Verbrechen der deutschen Geschichte kann nicht nach Namibia delegiert werden, sondern die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung muss auch dadurch unter Beweis gestellt werden, dass sie in Deutschland geführt wird. Wie aus anderen Aufarbeitungs- und Aussöhnungsprozessen bekannt ist, gewinnt sie nur dann Nachhaltigkeit, wenn sie eine breite, zivilgesellschaftliche Fundierung aufweisen kann. Und nur wenn diese Aufklärung auch über die deutsche Kolonialgeschichte und ihre Verbrechen erfolgt ist, wird sich die Bereitschaft in größeren Gruppen der Gesellschaft einstellen, sich der daraus ergebenden Verantwortung zu stellen. Genau das ist bisher unterblieben.
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Jürgen Zimmerer ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg. Er ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher und Aufsätze zur deutschen Kolonialgeschichte, zum Holocaust und zur Genozidforschung.