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Wissenschaft

Die Frankfurter Schule im Kampf gegen Nazideutschland.

»Wo man die auf mehr als 700 Druckseiten entfalteten Expertisen auch aufschlägt, man liest sich fest«, schreibt Klaus-Dietmar Henke von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Raffaele Laudanis »Im Kampf gegen Nazideutschland«.

Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, die in den 1930er Jahren vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Exil in die USA geflohen waren, für das Office of Strategic Services, den Vorläufer der CIA. Zwischen 1943 und 1949 versorgten sie die Amerikaner mit umfangreichen Dossiers über das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in der NS-Diktatur, über Hitlers Kriegsstrategien und die Rolle des Antisemitismus. Darüber hinaus entwarfen sie Pläne für den Wiederaufbau einer demokratischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs«. So spielten sie bei der Entwicklung der alliierten Nachkriegspolitik, den Entnazifizierungsprogrammen und der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse eine maßgebliche Rolle.Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst hat der Historiker Raffaele Laudani zu einem spannenden Band »Im Kampf gegen Nazideutschland« zusammengefasst.

 

 Aus der Einleitung von Raffaele Laudani:

 1. An einem heißen Sommertag während des langen italienischen 1968 unterbrach der Anführer der französischen Studentenbewegung, Daniel Cohn-Bendit (Abgeordneter im Europaparlament 1994 bis 2014 und angesehenes Mitglied der Grünen), immer wieder einen Vortrag von Herbert Marcuse im brechend vollen Eliseo-Theater in Rom und forderte ihn auf, sich zu seiner skandalösen Vergangenheit als CIA-Agent während des Zweiten Weltkriegs zu bekennen (vgl. Giacchetti 2004). Die – ursprünglich in den Vereinigten Staaten von einer anonymen Quelle verbreitete und später von der europäischen Presse aufgegriffene (Marcuse 1969; Matthias 1969) – Anschuldigung war unrichtig: Der deutsche Philosoph hatte keineswegs mit der umstrittenen amerikanischen Behörde zusammengearbeitet, schon gar nicht während des Krieges, als es die CIA noch gar nicht gab.

Stattdessen war Marcuse später in der Zeit seiner politischen Berühmtheit als »Vater der Studentenbewegung« Gegenstand von FBI-Ermittlungen (wobei man der Ehrlichkeit halber sagen muss, dass die Hälfte der Aktennotizen im Zusammenhang mit diesen Ermittlungen die Frage betrafen, wie man ihn besonders nach 1968 vor Todesdrohungen schützen könne). Indirekt trug die Provokation von »Dany le Rouge« jedoch dazu bei, eine Phase von Marcuses Leben zu beleuchten, die vorher kaum beachtet worden war. Das Gleiche galt für andere Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule, wie Franz Neumann und Otto Kirchheimer, die sich ebenfalls am amerikanischen Kriegseinsatz beteiligt hatten, indem sie für die Forschungs- und Analyseabteilung (R&A) von Amerikas erstem Geheimdienst, dem Office of Strategic Services (OSS), politische Analysen erstellten. Eigentlich legten diese Denker in Bezug auf ihren Staatsdienst eine ziemliche Unbefangenheit an den Tag. Mehr als einmal verteidigten sie ihre Beteiligung an einem der wenigen Versuche, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zu einem praktischen Werkzeug im Kampf gegen den Faschismus zu machen, mit einem gewissen Stolz (Marcuse et al. 1978). Exakt in dem Moment, als sich Max Horkheimer und Theodor Adorno ins kalifornische Exil zurückzogen, um ihre Dialektik der Aufklärung zu schreiben – den philosophischen Urtext* der Frankfurter Schule, den sie als »Flaschenpost« für spätere Generationen verstanden, während sie mit einer heillos bösen Gegenwart konfrontiert waren –, verfassten die drei anderen Mitglieder der Frankfurter Schule eine beeindruckende Zahl von Studien und Berichten über den »deutschen Feind«, die nicht nur zu den differenziertesten und aufschlussreichsten, jemals von Mitgliedern der Frankfurter Schule vorgelegten Analysen Nazideutschlands gehören, sondern auch eine außerordentliche historische Quelle für die Erforschung des Zweiten Weltkriegs darstellen.

Die Jahre, die die drei »Frankfurter« im amerikanischen Staatsdienst verbrachten, haben wenig mit den romantisierenden Vorstellungen über das Leben eines Geheimagenten zu tun, der in höchster Gefahr an Kriegsschauplätzen operiert, oder eines Doppelagenten, der sich insgeheim mit dem Feind verschworen hat; ihr Unterfangen ähnelt sehr viel eher jener »Arbeit am Begriff«, die man mit einem strengen deutschen Professor assoziiert. Unter der Leitung des Harvard-Historikers William Langer war die Forschungs- und Analyseabteilung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts faktisch die größte amerikanische Forschungseinrichtung. In ihrer Blütezeit zwischen 1943 und 1945 hatte sie über 1200 Angestellte, von denen 400 im Ausland stationiert waren. In vielerlei Hinsicht war dies der Ort, an dem nach dem Zweiten Weltkrieg die amerikanischen Sozialwissenschaften das Licht der Welt erblickten – mit Schützlingen der angesehensten amerikanischen Hochschullehrer und einem großen Kontingent aus Europa emigrierter Intellektueller in ihren Reihen (vgl. Katz 1989; Winks 1987: insb. Kap. 2). Um nur einige dieser Persönlichkeiten zu nennen: der Anthropologe Gregory Bateson, der Historiker Felix Gilbert, der Geograf Richard Hartshorne, die marxistischen Ökonomen Paul Sweezy und Paul Baran, der Ökonom Walter W. Rostow, der spätere Nobelpreisträger Wassily Leontief, Arthur Schlesinger Jr., die Soziologen Talcott Parsons und Barrington Moore Jr., der zweimalige Pulitzer-Preisträger und Altphilologe Norman O. Brown und die Mitglieder der Frankfurter Schule Arkadij Gurland und Friedrich Pollock. Diese Männer bildeten das »theoretische Gehirn« der amerikanischen Kriegsmaschinerie (Söllner 1986a: 27). Nach Auskunft ihres Gründers, Colonel William »Wild Bill« Donovan, fungierte die Forschungs- und Analyseabteilung für den Geheimdienst als »final clearinghouse«, als abschließende Clearingstelle, das heißt als ein Strukturierungsinstrument, das zwar nicht in die Festlegung der Kriegsstrategie und -taktik einbezogen war, das aber dank der einzigartigen Fähigkeiten von Spezialisten vor Ort in der Lage war, die relevanten Quellen zu interpretieren, die ungeheure Flut von militärischen Informationen, die in Washington eingingen, zu sammeln, zu ordnen, zu analysieren und zu filtern.In einem totalitären Weltkrieg, war Donovan überzeugt, »müssen die Geheimdienste total und totalitär sein«.

2. Man könnte die Tätigkeit von Neumann, Marcuse und Kirchheimer für die Forschungs- und Analyseabteilung wahrscheinlich als Teil der »totalen Mobilmachung « der akademischen und intellektuellen Welt Amerikas betrachten, die nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten bis in die »Seminarräume von [deren] Colleges« vordrang und die »zerlesenen Bücher unserer Gelehrten zum Rascheln brachte« (Earle 1942: 5, Anm. 3). Der erste der drei deutschen Gelehrten, der nach Washington übersiedelte, war Franz Neumann. Nach mehrmaligen sorgfältigen Überprüfungen durch das FBI wurde er im Frühjahr 1942 als Chefberater des Board of Economic Welfare eingestellt und später – im August desselben Jahres – als Chefökonom in der Geheimdienstabteilung des Büros des US-Stabchefs. Anfang 1943 übernahm er die Aufgaben eines stellvertretenden Leiters der Mitteleuropa-Sektion – derjenigen Unterabteilung der R&A, die mit der Analyse und der Beobachtung von Nazideutschland (und Österreich sowie den anderen mitteleuropäischen Ländern) betraut war. Er errang diese leitenden Positionen aufgrund des Ansehens, das er durch die Veröffentlichung von Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism 1942 erworben hatte – eines Buches, das wiederum aus einem im Auftrag des Stellvertretenden Generalstaatsanwaltes (Assistant Attorney General) Thurman W. Arnold vorbereiteten Memorandum resultierte und einen bedeutenden Beitrag zum amerikanischen Kriegseinsatz darstellte.

 In der Hoffnung auf eine akademische Anstellung hatte Marcuse 1941 Reason and Revolution: Hegel and the Rise of Social Theory veröffentlicht. Das Institut für Sozialforschung verließ er nur widerstrebend, aber mit dem Ziel, »Vorschläge« zu formulieren, wie man dem amerikanischen Volk in der Presse, im Kino, durch Propaganda usw. den Feind präsentieren könne,trat er in das Office of War Information (OWI) ein. Im März 1943 stieß Marcuse als leitender Analytiker in der Mitteleuropa-Sektion der R&A zu Neumann und etablierte sich schnell als »führender Deutschland-Analytiker«.Kirchheimer, der 1942 zusammen mit Arkadij Gurland und Neumann an einer wichtigen Studie über The Fate of Small Business in Nazi Germany für den Sonderausschuss zur Untersuchung der Probleme von Amerikas Kleinbetrieben im US-Senat gearbeitet hatte, war einige Monate als Berater für das OSS tätig, bevor er 1944 als Fachmann für das deutsche Strafrechts- und Verfassungssystem unter den Mitgliedern der Mitteleuropa-Sektion willkommen geheißen wurde (Gurland, Kirchheimer und Neumann 2003).

Die Staatsdiensterfahrung dieser drei Mitglieder des Instituts für Sozialforschung fiel zeitlich mit einem Wendepunkt in der Frankfurter Schule zusammen. Der Weggang von vielen Gelehrten, die sie berühmt gemacht hatten, markierte in mehrfacher Weise das Ende der Frankfurter Schule als theoretisch einheitlicher Bewegung. Eine Ursache für diese Auflösung waren sicherlich die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten des (von Max Horkheimer geleiteten und von der Columbia University in New Yorks Morningside Heights untergebrachten) Instituts für Sozialforschung (Wiggershaus 1986). Während seiner Verhandlungen mit den Washingtoner Behörden beschwor Marcuse Horkheimer mehrmals inständig, ihm einen ökonomischen oder intellektuellen Grund zu geben, auf die ökonomische Sicherheit zu verzichten, die sein Eintritt in den Staatsdienst ihm gewähren würde. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre hatte Marcuse einen großen Beitrag zur Formulierung des Programms der Kritischen Theorie geleistet (Horkheimer 1988 [1937]; Marcuse 1979 [1937]). Er konnte die Staatsdiensterfahrung damals nur dann nicht als Strafe empfinden, wenn sie als direkte Fortsetzung der Beiträge betrachtet wurden, die das Institut seit Kriegsbeginn durch den Ausstoß von Memoranden, Forschungsprojekten und Konferenzen über Nazideutschland für den amerikanischen Kriegseinsatz zu liefern versuchte.

Neumanns und Kirchheimers Ausscheiden aus dem Institut war etwas weniger emotional; da es Horkheimer nicht möglich war, weiterhin die »Kosten« für ihre Aktivitäten am Institut zu tragen, drängte er sie sogar deutlich, die Stellenangebote der verschiedenen Regierungsbehörden in Washington anzunehmen (Wiggershaus 1986: 327–331).Wie Horkheimer in einem Brief an Neumann vom 1. Februar 1942 einräumte (ebd.: 329 f.), gingen die finanziellen Schwierigkeiten des Instituts auch mit erheblichen theoretischen und politischen Divergenzen einher, die im Zusammenhang mit der Frage der Beschaffenheit und der Funktion des Nationalsozialismus aufgetreten waren. Die ganze Gruppe teilte die Idee, dass der Nazismus Teil eines umfassenderen sozialen Transformationsprozesses sei, der in einem einzigen Herrschaftsparadigma auch den Sowjetkommunismus und die liberalen Demo-kratien in sich begriff. Der Nazismus war somit ein Teil dessen, was Horkheimer und Adorno später in den 1950er Jahren als »totale Vergesellschaftung« beziehungsweise den für Massengesellschaften typischen Prozess systematischer Unterdrückung definierten, der »einem vorgeblich bloß biologischen Einzelwesen ›Mensch‹ nicht länger nur von außen [widerfährt], sondern […] die Individuen auch im Innern [ergreift] und […] sie […] zu Monaden der gesellschaftlichen Totalität « macht (Institut für Sozialforschung 1956: 36). Die Meinungsverschiedenheiten bestanden in der Bestimmung der treibenden Kraft hinter dem totalitären Vergesellschaftungsprozess, die Horkheimer, Adorno und Friedrich Pollock in der autonomen politisch-technischen Bewegung sahen, der die Ökonomie jetzt unaufhaltsam unterworfen wurde. Demgegenüber war jene treibende Kraft für die zukünftigen Analytiker in der Forschungs- und Analyseabteilung vorwiegend ökonomischer Natur. Horkheimer und Pollock begriffen ihre Analyse als Teil des breiteren theoretischen Rahmens des »Staatskapitalismus« – das heißt als Ausdruck einer qualitativ neuen sozialen Ordnung, in der es keine autonomen Märkte mehr gibt und das private Gewinnstreben den Erfordernissen des allgemeinen Plans untergeordnet wird, so dass das »Machtmotiv« tendenziell das Gewinnmotiv immer weiter ersetzte und traditionelle Kapitalisten »Rentner« wurden (Pollock 1975a [1941]: 72–100). Aus dieser Perspektive kann der Nazismus sicherlich als eine auf das »Primat der Politik über die Wirtschaft« gegründete »neue Ordnung « betrachtet werden (Pollock 1975b [1941]: 101–117).Den im selben Zeitraum von James Burnham und davor bereits in der konservativen, von Ferdinand Fried herausgegebenen deutschen Zeitschrift Die Tat vertretenen Thesen (Burnham 1941)nicht unähnlich, war Horkheimer der Ansicht, dass Macht eine überwiegend unpersönliche Gestalt angenommen hatte und nun aufgrund von dessen besserer technischer Kenntnis der Organisationsalchemie von einer neuen Sozialfigur repräsentiert wurde: dem Manager (Horkheimer 1987 [1942]).Über das Kapital verfügte administrativ zunehmend die politische Macht, die ihrerseits der ökonomischen Herrschaft des Großunternehmertums verpflichtet war, wodurch sich wiederum die Zusammensetzung der sozialen Klassen änderte.

In Behemoth hatte Neumann hingegen den Nazismus als »Nicht-Staat« definiert, als eine Form von monopolistisch-totalitärem Kapitalismus, wo »die herrschenden Gruppen die übrige Bevölkerung direkt kontrollieren – ohne die Vermittlung durch den wenigstens rationalen, bisher als Staat bekannten Zwangsapparat « (Neumann 1977 [1942/1944]: 543). In seinen Augen war Pollocks Behauptung in Bezug auf den Staatskapitalismus eine contradictio in adjecto, die in ihrer Untauglichkeit der These vom »Massenstaat« ähnelte, die im selben Zeitraum von einem anderen deutschen Emigranten, Emil Lederer, vorgebracht wurde, der die faschistische Diktatur als »modernes politisches System, das sich auf die amorphen Massen stützt«, definierte. Um den Machterhalts des Diktators sicherzustellen, habe dieses System die »Schichtstruktur« der Gesellschaft zerstört und so eine perverse Form von»klassenloser Gesellschaft« erzeugt (Lederer 1995 [1940]: 43). Für Neumann hatte der Kapitalismus unter den Nazis seine inneren Gegensätze nicht überwunden, die jetzt auf einer höheren Ebene wirkten und durch die Verwendung eines leistungsstarken bürokratischen Apparats und die Ideologie der völkischen* Gemeinschaft kaschiert wurden. Das NS-Regime förderte und verschärfte nämlich den Prozess der monopolistischen Konzentration, indem es die Macht der Industriepotentaten stärkte und die Stellung von Mittelstand und Arbeiterklasse schwächte. Während das kapitalistische System seine interne Dynamik nicht verloren hatte und der Profit weiterhin die »die Expansion befeuernde Energie« war, machte das mit dem Monopolisierungsprozess einhergehende Ende der autonomen Märkte eine totalitäre politische Macht erforderlich.

Kirchheimers und Marcuses Erklärung zufolge war der Aufstieg der Nazis zur Macht weder das Ergebnis einer sozialen Revolution, die die Produktionsverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft qualitativ veränderte, noch die einfache Wiederherstellung des Status quo vor der Weimarer Republik. Er war eher Ausdruck einer Verlagerung des »politischen Kompromisses«, auf dem die moderne deutsche Gesellschaft bis dahin gegründet gewesen war. Der Kompromiss bestand nicht mehr zwischen den Parlamentariern und der Regierung wie im klassischen Liberalismus oder in Abmachungen zwischen gegnerischen freiwilligen Vereinigungen wie in der Ära der Massendemokratie (Weimar). Die deutsche Gesellschaft gründete jetzt auf »Pakten« zwischen den Spitzen der herrschenden Gruppen (Großindustrie, Nazipartei und Armee), die allein das Interesse am Erhalt des Regimes einte und deren Konflikte durch die Gestalt des Führers* »als oberstem Schiedsrichter« und durch dessen imperialistische Expansionspolitik geschlichtet wurden. Die Invektiven der Nazis gegen den »kapitalistischen Geist« waren mithin alles andere  als antikapitalistisch; sie waren eher Ausdruck des zunehmenden Veraltens des auf dem Streben des Einzelnen gründenden Wettbewerbskapitalismus und des Aufstiegs einer in den Händen weniger großer Konzerne konzentrierten Wirtschaftsmacht (Kirchheimer 1976 [1941]: 243 f.; Marcuse 1998b).

 

Im Gegensatz zu Horkheimers Einschätzung wurden für Neumann, Marcuse und Kirchheimer die Wirtschaftsbeziehungen selbst unmittelbar in politische Beziehungen umgewandelt, wodurch der Staat zum »Exekutivorgan« der Wirt-schaft wurde, der die ganze Nation für die imperialistische ökonomische Expansion organisierte und koordinierte. Die Vorteile, die die großen Wirtschaftsgruppen durch die unmittelbare Gleichsetzung des Staates mit den vorherrschenden Wirtschaftsinteressen erlangten, machten ihre fehlende Unabhängigkeit hinnehmbar. Der Nazismus beseitigte vor allem die typischen Kennzeichen der liberalen Ära: das Gewaltmonopol, die Allgemeinheit des Rechts, den Staat als rationales Verwaltungssystem – alle Überlappungen von Politik und Gesellschaft. Aufgrund der nationalsozialistischen Politisierung der Privatsphäre ließ sich das Dritte Reich* zugleich als »Massenstaat« bestimmen, »der alle individuellen Interessen und Kräfte zu einer emotionalen Menschenmasse verschmolzen hat, die durch das Regime höchst geschickt manipuliert wird« und deren Einheit allein im gemeinsamen Selbsterhaltungstrieb besteht. Diese Politisierung führte jedoch nicht zu einer klassenlosen Gesellschaft, nicht einmal in einer perversen Form. Wie jede kapitalistische Gesellschaft war der Nationalsozialismus um zwei gegensätzliche soziale Klassen herum aufgebaut: »zum einen die kleine Anzahl derer, die den Produktionsprozess kontrollieren, zum anderen die breite Masse der Bevölkerung, die direkt oder indirekt von jener Oberschicht abhängt«. Seine Besonderheit bestand darin, dass er den gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozess durch die Verdrängung aller dazwischen liegenden Organe und Gruppen durchrationalisiert hat, was de facto zu einer Ausweitung der Ausbeutungsbasis führte. In diesem Sinne stellte er die »spezifisch deutsche Anpassung der Gesellschaft an die Erfordernisse der Großindustrie« dar, die mit den liberalen Demokratien und dem Sowjetkommunismus die Bejahung einer neuen Form von Rationalität teilte. Hierbei handelte es sich um eine »technische Rationalität«, die »nach den Kriterien von Effizienz und Genauigkeit funktioniert. Gleichzeitig löst sie sich jedoch von allem, was mit individuellen menschlichen Bedürfnissen und Hoffnungen zu tun hat; sie ist vollständig den Erfordernissen des allumfassenden Herrschaftsapparats angepasst.« (Marcuse 1998b: 77; Marcuse 2000) (…)

 

Zum Autor

Raffaele Laudani ist Professor für die Geschichte der politischen Theorie an der Universität Bologna.

19.07.2016

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Im Kampf gegen Nazideutschland
Im Kampf gegen Nazideutschland
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