Mit Ihrem Buch »Die Selbstgerechten« weisen Sie auf den schwindenden Gemeinsinn und den mangelnden Zusammenhalt in der Gesellschaft hin. Worin sehen sie dafür die zentralen Anzeichen?
Sahra Wagenknecht: Gesellschaftliche Debatten werden immer aggressiver geführt. Es wächst die Intoleranz. Gerade die privilegierten Milieus leben immer mehr in ihrer eigenen Filterblase und haben immer weniger Verständnis für die elementaren Bedürfnisse von Menschen, denen es weniger gut geht. Das spürt man an jeder Debatte, egal ob um Zuwanderung, Klimawandel oder die richtige Corona-Politik.
Wenn der Gemeinsinn schwindet und sich die gesellschaftlichen Gruppen in ihre Filterblasen zurückziehen, wird das langfristig zum Problem für die Demokratie. Warum?
Eine Gesellschaft braucht Zusammenhalt. Ohne Wir-Gefühl funktioniert keine Demokratie. Und auch ein starker Sozialstaat setzt voraus, dass ein Gefühl der Zusammengehörigkeit existiert, denn nur dann gibt es die Bereitschaft zu gesellschaftlicher Solidarität. Wenn der Zusammenhalt sich in lauter Kleingruppen und in völlig separate, einander feindselig belauernde Milieus auflöst, bleibt am Ende eine entfesselte Marktgesellschaft übrig.
Sie bemängeln die Unfähigkeit, Debatten mit Argumenten zu führen, statt immer gleich zu moralisieren oder sich zu empören oder die Gesellschaft in Gut und Böse zu unterteilen. Was macht dieses Phänomen aktuell so brisant?
Sahra Wagenknecht: Gerade in der politischen Linken hat sich eine Ideologie ausgebreitet, für die wichtiger ist, wer etwas sagt, als was gesagt wird. An die Stelle rationaler Argumente tritt mimosenhaftes Beleidigtsein. Statt sachlicher Debatten über die Lösung wichtiger gesellschaftlicher Probleme erleben wir Denk- und Sprachverbote. Das alles diskreditiert die gesellschaftliche Linke in den Augen großer Teile der Bevölkerung. Im Ergebnis wünscht sich heute zwar eine Mehrheit eine sozialere Politik, aber SPD und Linkspartei kommen zusammen kaum noch auf 25 Prozent.
In ihrem Buch zögern sie nicht, die „Lifestyle-Linke" anzuklagen für eine vermeintliche linksliberale Position, die mit den Werten der Linken nur noch wenig zu tun hat. Was ist ihre Hauptanklage und an wen ist sie vor allem gerichtet?
Sahra Wagenknecht: Zum linken Selbstverständnis gehörte es immer, sich vor allem für die einzusetzen, die es schwer haben und denen die Gesellschaft höhere Bildung, Wohlstand und Aufstiegsmöglichkeiten verwehrt. Der Linksliberalismus dagegen hat seine soziale Basis in der gutsituierten akademischen Mittelschicht der Großstädte. Er vertritt die Privilegierten, und zwar sozial, ökonomisch und kulturell. Dadurch haben die linken Parteien sich ihrer einstigen Wählerschaft entfremdet, sie haben die Grünen auf geradezu unterwürfige Weise als intellektuelle und politische Avantgarde akzeptiert und die AfD zur führenden „Arbeiterpartei“ gemacht. Ich möchte diese Entwicklung stoppen und umkehren.
Nennen Sie uns drei Maßnahmen, die aus Ihrer Sicht den Gemeinsinn stärken könnten?
Sahra Wagenknecht: Weniger gesellschaftliche Ungleichheit. Eine Wohnungspolitik, die für sozial durchmischte Wohnviertel sorgt. Und die Anerkennung und Wertschätzung der Lebensweise, der Kultur und der Werte der klassischen Mittelschicht und der Arbeiterschaft, die schon immer stärker auf Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft und Miteinander orientiert waren. Im Gegensatz zu dem heute als progressiv geltenden bindungslosen Selbstverwirklichungs-Individualismus und der linksliberalen Weltbürgerlichkeit, die auffällig gut zum ökonomischen Umfeld globaler Märkte und zu den Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen renditegetriebener Unternehmen passen.
Wem möchten Sie ihr Buch auf den Nachttisch legen?
Sahra Wagenknecht: Ich freue mich natürlich über jeden Leser. Das Buch richtet sich einerseits an linksorientierte Menschen, die die Schwäche der linken Parteien überwinden möchten, andererseits aber auch an Konservative, die sich wieder mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt wünschen und nicht in einer entfesselten Marktgesellschaft leben möchten.
Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin, Publizistin und Politikerin, Mitglied des Bundestags für die Partei Die Linke, für die sie auch im Europäischen Parlament saß. Von 2010 bis 2014 war sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis bis 2019 Vorsitzende der Linksfraktion. Sie betreibt einen eigenen Youtube-Kanal, auf dem sie wöchentlich aktuelle Themen kommentiert und schreibt regelmäßig eine »Focus«-Kolumne. Bei Campus sind ihre Dissertation The Limits of Choice und ihre Bücher Freiheit statt Kapitalismus (2012) und Reichtum ohne Gier (2016/2018) erschienen.