Wikipedia hat Geburtstag. Zeit, die Geschichte dieses Weltwunders einmal aufzuschreiben?
Pavel Richter: Höchste Zeit! 20 Jahre sind im Internet eine Ewigkeit. Als Wikipedia gegründet wurde, ging der spätere Facebook-Gründer Mark Zuckerberg noch zur Schule. Es ist so viel passiert seit den Anfängen, viele Geschichten wollen erzählt werden. Und wir alle nutzen Wikipedia ja ständig – doch die wenigsten wissen, wie dieser Wissens-Riese funktioniert, wer die Artikel schreibt, wie die Abläufe sind. Das alles möchte ich in meiner Biografie dieses Projekts darstellen.
Was macht Wikipedia unter den Internetriesen so besonders?
Pavel Richter: Wikipedia ist tatsächlich einmalig: Sie gehört niemandem, wird betrieben von einer Stiftung, und niemand verdient Geld mit ihr. Und auch ihre Abläufe sind einzigartig: Jeder kann mitmachen, jeder kann sein Wissen beitragen, es gibt keine Redaktion, keine Chefredaktion, und auch keine formale Struktur. Entscheidungen werden im Konsens gefällt – und das kann auch schon mal sehr lange dauern.
Was hat Sie persönlich an Wikipedia am meisten fasziniert?
Pavel Richter: »Wikipedia funktioniert nicht in der Theorie. Nur in der Praxis.« Wenn sich jemand dieses Projekt am Reißbrett ausgedacht hätte, es wäre mit Sicherheit gescheitert (wie ja auch die Versuche von Google und Facebook, Konkurrenzangebote zu entwickeln, trotz der investierten Millionen schnell gescheitert sind). Wikipedia ist ein wunderbarer Beweis dafür, was wir als Menschen leisten können, wenn wir es wollen. Und dass wir in der Lage sind, uns selbst zu organisieren – wir brauchen gar keine Anleitung, keine Hierarchien, keinen Chef.
Kleiner Spoiler ins Buch: Es gibt sicher unzählige kuriose Geschichten im Rahmen der Wikipedia Entstehungsgeschichte: verraten Sie uns eine?
Pavel Richter: Haben Sie eine gedruckte Enzyklopädie zu Hause? Dann stauben Sie sie mal ab und schlagen den Artikel »Rhein« auf. Wie lang ist dieser deutscheste aller Flüsse? 1320, steht da ja! Aber das stimmt nicht – dieser Zahlendreher hat sich ab den 50er Jahren in fast allen deutschen Enzyklopädien, aber auch in Zahlreichen Schulbüchern, eingeschlichen. Auch in Wikipedia stand diese falsche Zahl, bis 2009 / 2010 jemand nachgemessen hat. In Wikipedia konnte dieser Fehler schnell korrigiert werden – in Ihrem Brockhaus nicht mehr.
Wikipedia ist zu 90 Prozent von Männern verfasst. Was tut Wikipedia dafür, dass sich daran etwas ändert?
Pavel Richter: Wikipedia ist keine Einheit und kann auch nicht als solche handeln. Alles, was passiert, wird von den Menschen gemacht, die sich engagieren. Bezüglich auf die Dominanz von Männern heißt das: Zunächst muss man vorsichtig sein, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Wikipedia ist ja nicht trotz, sondern gerade wegen dieser »alten, weißen Männer« der Erfolg geworden, der sie heute ist. Die Männer, die sich ehrenamtlich bei Wikipedia engagieren, sind auch nicht per se schuld daran, dass so wenige Frauen mitschreiben. Sie tragen tatsächlich eine Verantwortung, dass sich das ändert.
Aber wichtiger noch als die Selbstheilungskräfte der Community ist das kontinuierliche Engagement von Frauen in Wikipedia. Wer nicht mitmacht, die verändert auch nichts. Wikipedia wird nur dann weiblicher und diverser, wenn mehr Frauen ihr Recht einfordern und gleichzeitig wahrnehmen, dass nämlich wirklich jeder und jede bei Wikipedia mitmachen darf.
Wird Wikipedia in Zukunft sein Gesicht verändern oder bleibt es vor allem eine weltumspannende Enzyklopädie?
Pavel Richter: Wikipedia wird immer eine Enzyklopädie sein. Aber die Idee hinter Wikipedia ist deutlich größer: »Das ganze Wissen der Menschheit allen Menschen der Welt frei zur Verfügung zu stellen.« Und Wissen lässt sich eben nicht nur in Enzyklopädien sammeln, sondern auch in anderen Formen: In Tänzen, in Märchen, in Bildern, Filmen, Musik, und so weiter. All das passt nicht in eine Enzyklopädie. Daher gehe ich davon aus, dass es ähnliche Ansätze (Community-getrieben, frei, selbstorganisiert, ehrenamtlich) in Zukunft vermehrt geben wird. Mit Wikidata startete hier in Deutschland das am schnellsten wachsende Wiki-Projekt seit Wikipedia.
Wie geht man bei Wikipedia mit »prozesshaften« oder schnell beweglichen Themen wie Corona um? Macht es überhaupt Sinn, sich auf Wikipedia über so etwas wie Corona zu informieren?
Pavel Richter: Absolut! Gerade in solchen Krisen zeigt sich die Stärke von Wikipedia. Zunächst einmal ganz technisch: Als alle Medienhäuser sich erst auf das Home-Office und die damit einhergehenden anderen Arbeitsabläufe umstellen musste, war Wikipedia bereit: Der Editierprozess war immer dezentral, immer digital, Recherchieren und Schreiben erfolgt schon seit 20 Jahren aus zahllosen Wohn- und Arbeitszimmern.
Wichtiger aber ist der inhaltliche Aspekt: Wikipedias Anspruch ist es, stets alles das darzustellen, was zum aktuellen Zeitpunkt bekannt und seriös belegt ist. Damit bildet Wikipedia keine eigene Meinung ab, und betreibt auch keine Forschung oder Recherche. Wikipedia sammelt und gewichtet das, was andere Leute – Wissenschaftler, Journalisten, etc. – über ein Thema sagen und schreiben. Wikipedia aggregiert Wissen – und macht somit auch dynamische und hoch komplexe Krisen wie die Corona-Pandemie verstehbar. Zugleich ist der Entstehungsprozess der Texte vollständig dokumentiert und transparent – was wiederum die Glaubwürdigkeit enorm erhöht.
Und nicht zuletzt profitiert Wikipedia vom eigenen Geschäftsmodell – bzw. dass es ein solches gar nicht erst hat. Wo Zeitungen auf die schnelle Nachricht, auf Klicks und auf Verweildauern setzen müssen, da kann Wikipedia sich Zeit nehmen, und auch Platz für ausführliche Darstellungen, die in einer Zeitung nur sehr selten vorhanden sind.
Zum Autor
Pavel Richter war u. a. im Risikomanagement internationaler Großbanken und Unternehmen tätig und arbeitet nun an der Schnittstelle zwischen Internet und Gemeinwohl. Fünf Jahre lang baute er Wikimedia Deutschland zum weltgrößten Wikimedia-Verein aus und legte damit einen der Grundsteine für den Erfolg von Wikipedia in Deutschland. In London und Berlin war er CEO der Open Knowledge Foundation, bevor er in die Geschäftsleitung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen wechselte, wo er heute die Digitalstrategie des Verbandes verantwortet.